Neuaufgelegter Klassiker
Philippa Pearces ‚Klassiker‘ Als die Uhr dreizehn schlug [engl. EA 1958] hat im Aladin Verlag eine schicke Neuauflage erfahren, denn das neue Cover stimmt in seiner atmosphärischen Gestaltung bereits gelungen auf die Erzählung ein. Hell leuchtet der Mond im Zentrum und lässt – gerahmt von einer großen Baumverzweigung – den Umriss eines Jungen in der Rückenansicht erkennen. Beim Lesen erfahren wir, dass es sich bei dem Jungen um Tom Long handeln muss, der in den 1950er Jahren lebt. Als sein Bruder Peter an den Masern erkrankt, wird er zu Onkel Alan und Tante Gwen in die Nachbarstadt ausgelagert und hadert mit seinem Schicksal, die Sommerferien allein in einer beengten Wohnung, ohne richtiges Spielzeug, verbringen zu müssen. Da helfen auch die kulinarischen Köstlichkeiten seiner Tante nicht und geplagt vom übermäßigen Genuss und dem fehlenden Bewegungsausgleich kann er nachts kaum mehr schlafen. Tom langweilt sich elendig, bis er auf das Geheimnis der großen alten Standuhr im Treppenhaus stößt und entdeckt: „Es gibt eine Zeit zwischen Tag und Nacht“ (45).
Die fantastische Schwelle
Als Tom mal wieder nicht schlafen kann, bemerkt er nämlich den eigenwilligen Rhythmus der Uhr, denn mit 13 Schlägen scheint diese völlig aus dem üblichen Takt geraten zu sein: „zwölf oder eins. Eine Stunde dazwischen gab es nicht“ (28) steht für ihn eingangs noch absolut fest. Auf seiner nächtlichen Erkundungstour öffnet Tom eine verborgene Tür und steht plötzlich mitten in einem blühenden Garten – dieser ist mit der eigentlichen Topographie des Miethauses aber nicht vereinbar und scheint in einer ganz eigenen Dimension verortet zu sein. Fortan schleicht Tom sich jede Nacht aus seinem Zimmer und erkundet die Gegenwelt, sodass die Nacht zur Zeit- und Raumschwelle in die andere Welt wird. Diese fasziniert und beängstigt ihn gleichzeitig: „Tom hatte Angst, in einer Tageszeit gefangen zu werden, die nicht die seine war“ (51). Dort hat er mit dem jungen Mädchen Hatty eine gleichaltrige Freundin gefunden, mit der er immer wieder spielt und das Beisammensein der Einöde des Tages bei seinem Onkel und seiner Tante diametral entgegensteht. Vor seinen erwachsenen Verwandten versteckt Tom diese Ausflüge, allein seinem Bruder Peter berichtet er in geheimen Briefen von diesen Erfahrungen und lässt ihn daran teilhaben.
Doch irgendwas scheint mit der Welt im Garten nicht zu stimmen, unklar ist sich Tom über Hattys Status und vermutet, sie könnte möglicherweise ein Geist sein oder er reist selber jede Nach erneut in das viktorianische Zeitalter Englands zurück, denn mit seiner Wirklichkeit der 1950er Jahre hat dieser Ort nur wenig gemein. So weicht nicht nur die Einrichtung des Hauses von dem ab, was er kennt, sondern auch die Kleidung der anderen Personen. Gleichzeitig ist seine eigene körperliche Präsenz in der anderen Welt losgelöst von den Begrenzungen des Diesseits und er kann dort durch Wände gehen – ist also vielleicht Tom selber der Geist?
Raum-Zeit-Anomalien
Das Verhältnis von Raum und Zeit ruft bei Tom stete Fragen auf und lässt ihn immer wieder darüber grübeln. Denn Tom nimmt schrittweise Dissonanzen in diesem Gefüge war, Jahreszeiten scheinen sich schneller abzuwechseln und auch Hatty verändert sich, indem sie sprunghaft älter wird. Die Raum- und Zeitanomalie offenbart einen Riss im Gefüge der erzählten Welt: im gesamten weiteren Verlauf wird das Verhältnis immer diffuser und fungiert in dieser konsequenten Irritation als dramaturgisches Spannungsmoment. So spielt der Text auf vielen Ebenen mit dem Verhältnis von Raum und Zeit und verhandelt darüber auch Reflexionen über einen natürlichen Zeitfluss. Der Schluss des Romans kann hier nicht verraten werden, führt aber all diese ausgelegten Fäden überraschend zusammen und vereint die eigentlich unvereinbaren Dimensionen des erzählten Raum-Zeit-Kontinuums doch noch miteinander und lässt diese im Raum des Gartens überlappen.
Erzählte Passage
Liest man den Roman nicht nur auf der bloßen Handlungsebene, die bereits gute Unterhaltung bietet, sondern noch auf einer metaphorischen, dann wird entlang des verdichteten Raum-Zeit-Gefüges von einem kindlichen Entwicklungsprozess erzählt. Der fantastische Garten ist deutlich als ein idyllischer Kindheitsraum gezeichnet – ganz in einer romantischen Tradition, wie bereits bei Tieck oder Hoffmann angelegt – und lässt diesen Raum in der engen Naturverbundenheit zunächst zum Hort eines unbedarften Spiels werden. Sukzessive bricht dieses Bild auf, nimmt Spannungen und Dissonanzen auf und deutet die krisenhaften Dimensionen einer entwicklungspsychologischen Passage an. Diese werden hier nicht in allen Facetten ausgeleuchtet, schwingen aber deutlich mit, sowohl für die Figur Hatty, die ja tatsächlich altert und zur jungen Erwachsenen wird, als auch für Tom, der dies an seiner Gefährtin beobachtet. Die Zeitspanne des Sommers – ein weiterer symbolischer Indikator für das Ende der Kindheit – erzählt so vom Übergang Toms in eine neue Lebensphase: „Der Garten und seine Umgebung standen also an und für sich nicht außerhalb der natürlichen Ordnung der Dinge“ (62), sondern fungieren als Anschauungsraum und Zeichenträger dieses Entwicklungsprozesses.
Zeitlose Aktualität
Auch wenn die Rollenbilder- und Verteilung von Vater und Tante bisweilen antiquiert erscheinen, bleibt der Roman nach 60 Jahren immer noch erstaunlich gut lesbar und bietet spannenden Unterhaltung. Das Verhältnis von Zeit und Raum ist dabei nicht nur innerhalb der erzählten Welt interessant, sondern auch darüber hinaus auf einer extradiegetischen Ebene: der Roman hat eine zeitlose Aktualität bewahrt, die ihn zum sehr lesenswerten Klassiker macht.
Literatur
Philippa Pearce (2016): Als die Uhr dreizehn schlug. Hamburg: Aladin [engl. EA 1958].