Aprikosensommer

Eves Leben ist aus den Fugen geraten: erst kürzlich musste sie von den Hackeschen Höfen im Herzen Berlins an den ländlichen und ruhigen Stadtrand ziehen, außerdem hat ihr Freund Matteo gerade mit ihr Schluss gemacht. Und als wäre das nicht genug, säbelt sie sich im Werkunterricht auch noch fast einen Finger ab. Die Energien, die diese Zeit des Umbruchs und Kontrollverlusts freisetzt, haben jedoch auch etwas Gutes: Eve schafft es endlich ihre Mutter dazu zu bringen, ihr von ihrem Vater zu erzählen. Den kennt Eve nämlich nicht. So beginnt die Suche nach Eves Vater, an deren Ende beide, Eve und ihre Mutter, nach Istanbul fliegen.

Eher Aprikosenfrühjahr

Die Grundkonstellation der Geschichte, die auf dem Rücken des mit pfirsich- und türkisfarbenen Ornamenten verzierten Buches potentiellen LeserInnen präsentiert wird, klingt verführerisch. Da sucht ein Mädchen in Istanbul nach ihrem Vater und verliebt sich zum allerersten Mal. Assoziationen von Identitätssuche, Kulturaustausch und natürlich Romantik, Wärme und Urlaub werden unmittelbar aufgerufen. Der Roman löst all dies eher schlecht als recht ein. Viel zu lang dauert es, bis die Handlung ins Rollen kommt, um dann auf ein paar Seiten alles abzuhaken, was als eigentlicher Inhalt des Romans angekündigt wurde.

Knapp zweihundert Seiten, über zwei Drittel der Länge des Buches, dauert es, bis die Geschichte in Istanbul ankommt. Davor verliert sich die Erzählung in Beschreibungen von Monatsfeiern an der Waldorfschule mit Eurythmietanzaufführungen, Plänen des Onkels, eine Bäckerei zu eröffnen, unangenehm zähen Szenen zwischen Mutter und Tochter und dramatisch-verklärten Traumsequenzen, in denen Eve ihre Gefühle verarbeitet. So ist es fast nicht überraschend, dass es gar nicht Sommer ist, wenn Eve und ihre Mutter nach Istanbul fahren. Und die Aprikosen sind auch noch nicht reif.

Imagefilm und kulturelle Identität

Wie in einem Imagefilm zur Förderung des Tourismus der Stadt, ziehen, gepresst auf die verbleibenden Seiten, nun alle Höhepunkte, die man in Istanbul vermuten würde, an einem vorbei. Istanbul ist dabei stets wunderschön und magisch. Schon bei der Ankunft beschreibt Eve Istanbul als Stadt der “(m)illionen Lichter, die das Dunkel mit Leben sprengen, von sanft glimmenden Adern durchzogen, wie Glut bei einem ausgehenden Feuer.” (185) Diese poetische Überhöhung setzt sich auch beim Erkunden der Stadt fort. Im großen Bazar treiben Eve und ihre Mutter “durch eine Welt voller Kostbarkeiten, Juwelen und Prunk”(217), bei der Fährfahrt sehen sie den Sultanspalast, einen “gigantischen Prachtbau” (237) und vor dem Restaurant in dem Eve mit der türkischen Seite ihrer Familie Essen geht “glitzerte das Meer” und über ihnen “erstreckten sich Mond und Sterne, und warme Luft streichelte” (255) ihre Haut. Eve wandert durch eine Werbeplakatinkarnation von Istanbul, das so zur perfekten Bühne für die enttäuschend ereignislose Suche nach ihrer neuen kulturellen Identität wird.

Glatt, nachgiebig und somit etwas fade ist nämlich auch die Familienzusammenführung. In wenigen Seiten sind Eve und ihre Mutter Teil der Familie. Mögliche Spannungen werden abseits der Handlung ausgetragen. So erfährt man, dass Cenk, Eves Vater, Journalist und Systemkritiker ist, was ihn und seinen Vater entzweit hat. Doch auch diese Krise, welche viele Jahre andauerte, ist schnell aus dem Weg geräumt. Anstatt aktiv an der Versöhnung beteiligt zu sein, wird Eve und ihrer Mutter nur rückblickend von der Aussprache zwischen Vater und Sohn berichtet. Politik und Generationenkonflikt, die hier durchaus thematisch relevant gewesen wären, wirken daher, als wären sie lediglich brauchbar um alibihaft Komplexität anzudeuten, darüber hinaus jedoch störend und unerwünscht.

Eve, die fünfzehn Jahre in Berlin aufgewachsen ist, zeigt auch keine Anzeichen von Befremdung. Der Roman inszeniert mit ihrem ersten Istanbulbesuch nicht ein Kennenlernen einer neuen Kultur, sondern die Heimkehr eines Mädchens, dass schon immer im Herzen Türkin gewesen ist. Sesamkringel sind lecker, der Gesang des Muezzins ist ihr nach drei Tagen “schon selbstverständlich geworden” (266), mit ihren türkischen Großeltern versteht sie sich “wortlos”, “nur mit Blicken und Gesten” (272) und die Großmutter sieht genau aus wie Eve, nur älter. Komplizierte Prozesse werden so dargestellt, als wären sie völlig nebensächlich. Alte Streits werden beigelegt, Familien vereint und kulturelle Identitäten angenommen, als gäbe es nichts Simpleres. Es mag zur Botschaft des Romans gehören, dezidiert dafür einstehen zu wollen, dass diese sonst so beladenen Dinge auch leicht und mit Freude vonstattengehen können. Diese Zeichnung von Interkulturalität wirkt jedoch, wie das plakative Istanbul, eindimensional und somit wenig interessant.

Aprikosensommer klingt nach einem perfekten Buch für den Strand, lässt jedoch eher Langeweile aufkommen. Die Dramaturgie der Handlung erinnert an eine Fernsehshow, bei der verlorene Verwandte wiedergefunden werden. Nachdem in langen zähen Gesprächen etabliert wurde, wie man sich verloren hat und wen man sucht, kommt dann kurz und tränenreich der Höhepunkt. Man versichert vor den Zuschauern, dass man sehr froh ist, sich gefunden zu haben und nun in Kontakt bleiben wird. Applaus. Während eine Fernsehshow durchaus nur mit den großen, ungebrochenen Gefühlsmomenten arbeiten kann, muss ein Buch, auch eines für pubertierende Teenager, wohl doch etwas mehr bieten; eine Handlung, einen Spannungsbogen, Hindernisse, Konflikt, etwas, dass einen Roman lesenswert macht. Jene privaten Gespräche, die Zuschauer sonst nicht mitbekommen, weil die wiedervereinte Familie in den Backstage Bereich geführt und so Augen und Ohren des Publikums entzogen wurde.

Aprikosensommer führt einen durch zweihundert Seiten Stillstand, um dann alles im Eilschritt in Wohlgefallen aufzulösen. Gut, dass wenigstens der Fahrstil des Busfahrers und die orientalisch Toilette gewöhnungsbedürftig sind. Sonst wäre wohl Garnichts passiert.

Literatur

Selek, Deniz: Aprikosensommer. Frankfurt am Main: Fischer KJB, 2015.

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