Der Atlas der Schweizer Kinderliteratur, herausgegeben vom Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, ist im wortwörtlichen Sinne ein gewichtiges Buch: in übergroßem Din A4 Format und mit schwerem blauen Leineneinband macht der Band bereits in der äußeren Erscheinung ordentlich Eindruck. Inhaltlich dreht sich der Atlas um all die literarischen Inszenierungen der Schweiz als Topos und topographischem Raum. Die dafür im Untertitel versprochenen Expeditionen & Panoramen setzt das Cover gekonnt ins Bild: drei Kreise sind aus dem ansonsten schlichten blauen Untergrund ausgeschnitten und bilden die Gucklöcher auf einzelne Szenen der anstehenden Expeditionen in und Panoramen von Schweizer Räume(n). Schlägt man den Band auf, entblättert sich im Innenteil zunächst ein Netz aus Linien, auf dem weitere Kreise platziert sind. Subtil führt so das Vorsatzblatt in das Programm des Buches ein: es entfaltet sich ein Geflecht aus Bezügen, denen nachgegangen wird.
Die Koordinaten des Bandes
Dass es sich bei dem vorliegenden Buch um ein außergewöhnliches handelt, zeigt bereits das ausgefallene Inhaltsverzeichnis, denn dieses ist als Koordinatensystem angelegt. An den Längen- und Breitengrad des Bandes lagern sich dabei vier thematische Pole an: Zoo, daheim, Rundsicht und unterwegs – dazwischen verorten sich die einzelnen Beiträge auf den Linien des Koordinatensystems. Die darauffolgende Seite bietet für alle weniger topographisch geschulten Leserinnen und Leser auch noch ein Inhaltsverzeichnis im klassischen Aufbau. Der Blick auf die Beiträgerinnen und Beiträger offenbart dabei zwei Dinge: zum einen gibt es Texte zu vielfältigen Aspekten aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, zum anderen sind diese Abhandlungen von künstlerischen Positionierungen aktueller Schweizer Künstlerinnen und Künstler begleitet. In dieser Doppelausrichtung verfolgt der Atlas der Schweizer Kinderliteratur eine interessante Verknüpfung aus Poetik und Praxis.
Expeditionen und Panoramen
Die einzelnen Beiträge stellen in ihrer Vielfalt von Zugriffen die Diversität in der Darstellung der Schweiz in der Kinderliteratur heraus. So gibt es eine Abhandlung von Elisabeth Eggenberger, die verschiedene Schauplätze in der Schweiz als Handlungsorte fokussiert und spezifische Ikonen und Bilder diskutiert. Christine Lötscher unternimmt eine Expedition in das Genre der Fantastik und zeigt die darin realisierten Fortbewegungsformen auf. Es gibt ferner Beiträge zu historischen Mythen (Jakob Tanner), veränderten Landschaften (Andreas Bäumler & Barbara Piatti), sprachlichen Variationen (Stefan Zweifel), dem Übersetzen (Irene Weber Henking & Daniel Rothenbühler) und der Besonderheit der Schweizer Mundart (Beat Mazenauer), den Abenteuerinnen in Gender-Perspektive (Manuela Kalbermatten), der Idyllisierung von Berglandschaften (Ingrid Tomkowiak), dem (Alpen)Krimi als Genre (Gudrun Stenzel), bildlichen Adaptionen von Klassikern (Deborah Keller), Bild- und Kinderwelten (Gundel Mattenklott) und tierwissenschaftlichen Bildstudien (Franz Lettner). Das doppeldeutig zu verstehende Wandern mit Zwergen als „touristische Nutzung von Kinderbüchern“ ( S.140) verweist auf eine weitere Schnittstelle von Literatur und praktischer Anwendung (Thomas Barfuss & Patrizia Paravicini). Aspekte des Fremden und Fremdseins werden sowohl von Gina Weinkauff als Figurentypen der Abweichung diskutiert, als auch von Roger Meyer im Hinblick auf Migrationsprozesse. Heidi Lexe begibt sich weiterhin – der Name verpflichtet – auf Wanderjahre 2.0 und zeichnet die medialen Bearbeitungsprozesse von Alpenreferenzen nach und Christine Tresch widmet sich Lehrer-Schüler-Verhältnissen in einer diachronen Sicht. Hans ten Doornkaats Text zur Kinderbuchszene Schweiz mit dem Fokus aufs Schreiben, Illustrieren und Verlegen beschließt die gelungene Sammlung.
Bereits diese verknappte Auflistung zeigt die enorme Vielfalt des Bandes, bei dem das who is who der Schweizer Kinder- und Jugendliteraturszene sowie Gäste der angrenzenden deutschsprachigen Länder vereinigt sind. Der Atlas der Schweizer Kinderliteratur ist damit ein sehr lesenswerter Band, der nicht nur in seiner äußeren Aufmachung überzeugt, sondern auch in seiner inhaltlichen Gewichtigkeit.
Literatur
Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM: Atlas der Schweizer Kinderliteratur. Zürich: Chronos 2018.