Casting

Spiel ums Leben

Yvonne Richter schildert in „Casting. Spiel ums Leben“ ihre Version einer dystopischen Zukunft, in welcher die Medien, genauer gesagt, Castingshows jeder Art, den Alltag der Menschen vollkommen in der Hand haben. „Spiel ums Leben“ bekommt in dieser Welt allerdings eine andere Bedeutung, als man es als Leser anderer Dystopieromane vermuten würde. In den Castingshows mag es zwar auch schmerzhaft und brutal zugehen, jedoch kommt man mit seinem Leben davon. Die Gewinne der Shows sind es, die einen derart großen Einfluss auf das Leben aller Teilnehmenden haben: Geld, Nahrungsmittel, Bildung und selbst Wohnraum gibt es für die Sieger. Was erst einmal gut klingt, hat den Haken, dass diese Grundversorgung an Gütern in der Welt von Casting scheinbar ausschließlich über die Teilnahme an den Shows zu beziehen ist. Für die Verlierer bedeutet dies Obdachlosigkeit, Hunger und stetiger sozialer Abstieg. Doch auch für die Gewinner reichen die Preise nie lange genug, um realistisch in die Zukunft planen zu können. Die stetige Ungewissheit, wie man sich in den kommenden Tagen ernähren soll, macht alle Menschen von den Castingshows abhängig. So geht es auch Lovis, dem jungen Protagonisten des Romans. Doch er und eine Gruppe von unzufriedenen Jugendlichen beschließen, gegen das ungerechte und opressive System zu rebellieren.

Futuristische Wortneuschöpfungen sind doppelplusungut

Das Setting und die Welt von Richters Roman mögen für die gegenwärtige Jugendliteraturlandschaft zwar alles andere als innovativ sein, doch stecken in der Idee interessante Ansätze, die für eine fesselnde Geschichte taugen könnten. Leider schöpft die Erzählung dieses Potential zu kaum einer Stelle aus. Die handelnden Figuren sind statisch und meistens auf eine einzige Eigenschaft reduziert, sowohl auf Seiten der ‚guten‘ Rebellen wie auch auf Seiten des ‚bösen‘ Systems. Die Welt selbst erscheint wie eine blutleere Karikatur einer ernstgemeinten dystopischen Welt und wirkt insgesamt nicht nachvollziehbar und glaubhaft (dazu später mehr). Die Probleme des Romans beginnen schon auf erzählerischer und sprachlicher Ebene. In der Tradition von Klassikern wie 1984 hat sich in der Welt von Casting eine futuristische Sprache entwickelt, welche wie eine verrohte Version der Gegenwartssprache wirkt. Dies fängt bei den Fachbegriffen der Shows an (Teilnehmende heißen Castidaten, Helfer hinter den Kulissen sind Castiener und gelungene Shows verdienen sich das Prädikat castastisch) und erstreckt sich auf Alltagsgegenstände (Smartphones sind Redfone, ein Kühlschrank ist ein Kaltfrisch). Der Versuch, durch eine Veränderung der Sprache die Lebenswelt der Geschichte zu verändern, ist erkennbar, zündet aber nicht. Zu altbacken wirkt das gefundene Vokabular an vielen Stellen, Jugendliche beschimpfen sich zum Beispiel in einer Szene als „Kotzbrocken, […] Feigsocke, […], Hanswurst, Witzfigur, Pappnase …!“ (S. 14). Hier kommt beim Lesen der Eindruck auf, als wäre der Wortschatz der Zukunft in einer Zeitschleife direkt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts genommen worden.

Noch störender als das unpassend ausgearbeitete Zukunftssprech sind nur die sprachlichen Eigenheiten der einzelnen Figuren. Wie weiter oben schon beschrieben, sind diese oft sehr eindimensional und müssen daher oft ihren gesamten Charakter mit Hilfe eines einzigen Fixpunktes entfalten. Einer der Jugendlichen ist da etwa ein sinnierender Feingeist. Als Konsequenz singt er statt zu sprechen, in (schiefen) Reimen, egal wie bedrohlich die Szene gerade sein mag. Eine andere Figur war in ihrem früheren Leben ein Jockey, was liegt also näher, als die Figur „Hotte“ zu nennen und ausschließlich in Pferdemetaphern sprechen zu lassen:

“Vereinzelt kommen Leute zu uns und wir versuchen das eine oder andere, Hürden in den Weg zu stellen oder Ross und Reiter zu nennen. Aber wir sind zu wenige. Und dort draußen laufen alle mit Scheuklappen rum. Die Caster sitzen auf dem hohen Ross, halten die Zügel in der Hand und passen auf wie die Schießhunde, dass die Pferde nicht scheu werden”, schnaubte der Wirt aufgebracht, dass sich seine Nüstern blähten.” (S. 117).

Nicht nur redet die Figur ausschließlich ‚pferdisch‘, sie wird auch noch wie eines beschrieben. Um mal im gleichen Wortfeld zu bleiben: Da sind der Autorin die Gäule durchgegangen. Die oft ins Übertriebene gesteigerten Manierismen der Figuren wirken im besten Falle aufheiternd und komisch, im schlimmsten Falle aber einfach nur unglaubwürdig und störend. Schlimmer noch, die heiteren Einwürfe zerstören an vielen Stellen den Weltentwurf einer ungerechten und ausbeuterischen Dystopie.

Die Herrschaft der Witzfiguren

Lenkt man den Blick auf die Herrscherkaste der Welt von Casting, werden die Ungereimtheiten noch offensichtlicher. Handelnde Antagonisten sind hauptsächlich Juroren der Castingshows, welche eine Doppelrolle von Konzeption und Moderation der Sendungen einnehmen. Hinter diesen Juroren stehen Finanzöre (ja, wieder so eine Wortschöpfung) und Regisseure. Die Bedeutung der Letzteren bleibt völlig im Dunkeln, während die Finanzöre die mächtigen Geldgeber sind, die von irgendwoher den gesamten Castingbetrieb finanzieren. Die Juroren sind das ausführende Organ, welches in größtem Reichtum lebt und die Massen des Proletariats nach besten Kräften ausbeutet. Um sie wirklich eindeutig als Antagonisten zu markieren, sind sämtliche Juroren stets extrem unsympathisch, missgünstig, laut, dumm und taktlos inszeniert. Klingende Namen wie „Folta Kräh“, „Kami Katze“ oder „Quassel Strippe“ runden das Gesamtpaket ab.

Zu keiner Zeit kann der Roman erklären, wie sich das vorherrschende Gesellschaftssystem entwickelt haben soll. Es gibt eine riesige Masse an ausgebeuteten Menschen, die jeglicher Selbstbestimmung auf ein erfülltes Leben beraubt sind und ihnen gegenüber steht eine kleine Kaste von Herrschenden, die ihre Macht ausschließlich durch alles beherrschende Castingshows rechtfertigen. Es existieren den Herrschenden unterstellte Sicherheitskräfte, diese werden allerdings an verschiedenen Stellen als schlecht ausgerüstet und offensichtlich dilettantisch beschrieben. Der medienkritische Grundgedanke der Erzählung wirkt auf diese Weise schnell schal. Zwar könnte eine Art „Castokratie“ durchaus eine denkbare Mediendystopie sein, im Roman selbst stellt sich aber schnell die Frage, warum ein Aufstand der Massen dieses System nicht einfach im Handstreich überwerfen sollte.

Die Utopie in der Dystopie

Eine erfolgreiche Form des Widerstands bekommt man in Casting dann auch tatsächlich präsentiert. Protagonist Lovis und seine Freunde haben in dem Moment genug vom System, in dem sie aufdecken, was mit Kandidaten passiert, die nicht mehr geeignet genug für die kraftraubenden Shows sind. Diese Ausgestoßenen treten in einem geheimen „Auscast“ an, einem brutalen Parcours, nach welchem die Verlierer direkt als Sklaven in Fabriken geschickt werden (während die Sieger scheinbar nichts außer dem Recht erhalten, im nächsten Auscast teilzunehmen). Wütend und erschüttert über diese neue Grausamkeit wächst in den Jugendlichen der Wille zur Rebellion. Über den Kontakt zu einer versteckten Kneipe voller Aussteiger aus dem System findet die Gruppe schließlich die Ruine einer alten Leinen-Manufaktur, Neuwheyl genannt. Wasser, Boden für Gärten und alte Häuser sind vorhanden und kurzerhand beginnen Lovis und seine Freunde, die Arbeitersiedlung zu restaurieren. In kurzer Zeit kriegen sie dabei tatkräftige Hilfe von allerlei nützlichen Menschen, die Mutter eines Mädchens ist Gärtnerin, andere können schreinern und tischlern.

Diese (im Kontext der Welt verräterischen) Aktionen geschehen völlig ohne Wissen der Herrschenden. Auch dann noch, wenn sich die neue Siedlung immer mehr vergrößert und die Gruppe gleichzeitig beginnt, durch gezielte Sabotagen die Aufnahmen der Castingshows zu stören, finden sie kein Mittel gegen den Widerstand, begreifen genaugenommen nicht einmal, woher dieser kommt und wer ihm angehört. Der fragile utopische Fleck in der dystopischen Welt kann sich nahezu ungestört entfalten, nur einmal kommt es zu einer Szene, in der die Siedlungsbewohner ihre drohende Entdeckung spielerisch durch meisterhafte Tarnung abwenden können. Ansonsten aber ist Neuwheyl eine ungebrochene Erfolgsgeschichte, die zum Ende der Geschichte sogar als ein neuer Status Quo guten Lebens gesetzt wird.

Weichgespülte Jugendliteratur?

Eine abschließende Meinung zum Roman fällt schwer. Entweder hat man es als Leser mit einem Text zu tun, der zwar an Jugendliche adressiert ist (wie unter anderem die Kategorien auf Amazon verraten), diese aber weder inhaltlich noch sprachlich angemessen ansprechen kann. Oder aber, es handelt sich bei Casting um einen Text, der seine jugendlichen Leser tatsächlich bewusst auf diese Art und Weise adressieren will. Die zweite Variante wäre ausgesprochen schade, denn sie würde bedeuten, dass die Autorin ihrer Leserschaft nicht viel zutraut. Eine vorindustrielle Gemeinschaft als platten Gegenentwurf zu einer nicht glaubhaften Mediendiktatur zu setzen ist nichts weiter als die Bedienung altbekannter kultur- und fortschrittspessimistischer Allgemeinplätze. Bevölkert man die Welt des Romans dann noch mit Figuren, die selbst in Kinderbüchern schon für das ein oder andere Augenrollen sorgen könnten, ist die Adressierung völlig missglückt. Um abschließend auch noch einmal tief in das passende Sprachregister zu greifen, kann festgehalten werden, dass es Casting schwer haben wird, sich im knallharten Feld der Jugenddystopien für den Recall zu qualifizieren.

Literatur

Richter, Yvonne: Casting. Spiel ums Leben. Fabulus-Verlag: Fellbach 2016.

 

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