Mit Chloé völlig von der Rolle hat Sonja Kaiblinger den ersten Band einer neuen Buchreihe veröffentlicht, der sich um Chloé und ihre Clique dreht und sich vornehmlich an eine weibliche Leserschaft richtet. Neben der gewählten Perspektive der Protagonistin ist es besonders die Gestaltung des Buchcovers, das Mädchen anspricht: Gezeigt wird die Protagonistin des Buches, die frech aus dem Bild schaut, im Hintergrund ist der Ort zu sehen, an dem handlungsimmanent die meiste Kommunikation und die wichtigsten Entscheidungen und Entdeckungen stattfinden, das Mädchenklo.
Ein besonderer Ort für besondere Kommunikation
Schon durch das Cover fällt auf, dass es mit der Mädchentoilette etwas Besonderes auf sich haben muss: ‚Plüschig‘ kommt der Vorraum mit Sofa, Sitzhockern, Vorhängen, Kronleuchter, Säulen und Waschbecken daher, der so völlig den Vorstellungen einer Schultoilette der Leserschaft widerspricht – und gerade dadurch seinen Reiz erhält, als Ort der Kommunikation besonders hervorgehoben zu werden. Zusammen mit der pastellfarbenen Farbgebung wird klar: Hier können sich fast nur Mädchen wohlfühlen und die neuesten Informationen austauschen. Die literarischen und noch weiter ausufernden Beschreibungen der Mädchentoilette unterstreichen diesen ersten Eindruck: Das Plüschsofa glitzert, es gibt einen Kaugummiautomat, Zerstäuber mit Vanille-Duft, wasserlösliche Stifte, mit denen die Schülerinnen auf dem Spiegel und den Kacheln Botschaften hinterlassen können – und ein Schulkater, der hier sein Katzenklo hat. Begründet wird diese Luxustoilette mit der fiktiven Geschichte der Nonne Notburga von Sorgenfrey, die die Idee der ersten Toilettenspülung hatte und deren Lebensphilosophie: „Ein schönes Klo und Sonnenschein, mehr brauchst du nicht zum Glücklichsein“ (S. 52) der Direktor der Schule übernommen und den Schülerinnen ansprechende Toilettenräume ermöglicht hat.
Die Schultoilette als markanter Handlungsraum wird in seiner luxuriösen Schönheit mehr als deutlich hervorgehoben und betont und damit gleichzeitig konträr eingesetzt zu den Perfiditäten, die sich Angelique und ihre Clique an diesem Ort ausdenken, um Mitschüler zu mobben und zu ärgern. So wird z.B. Pauline über Nacht in der Mädchentoilette eingesperrt und am nächsten Morgen von Chloé und ihren Freundinnen gefunden. Die Mädchentoilette ist somit nicht nur Ausgangspunkt für die Geschichte, sondern wird zu einem wichtigen Handlungsort, an dem Neuigkeiten ausgetauscht und neue Erkenntnisse gewonnen sowie Ideen und Entschlüsse gefasst und in die Tat umgesetzt werden. Gleichzeitig bieten die Toilette und alle mit ihr verknüpften Räumlichkeiten die Möglichkeit der anonymen Kommunikation – wie sie auch Kaiblinger nutzt – und verbindet den Roman entsprechend mit aus dem Alltag bekannten Phänomenen wie Toilettengraffitis. „Die Kommunikationssituation selbst gilt dabei als besonders ungewöhnlich, da Personen aus völliger Privatheit, anonym und getrennt vom anderen Geschlecht ‚öffentlich‘ kommunizieren. Die Toilettenwand wird hierbei zum Medium, das die Sorgen, Meinungen oder Gefühle der Produzenten an die Öffentlichkeit trägt“ (Stumpf 11). Genau dieses Phänomen nutzt Kaiblinger, wenn sie Chloé und ihre Freundinnen – mit offizieller Erlaubnis dank Farbstiften – den Spiegel und die Fliesen beschreiben lässt, um Pauline damit zur beliebtesten Schülerin zu machen. Spannend wird es, als auch andere Kommentare auf den ‚Medien‘ hinzukommen und Vermutungen nach den Urhebern angestellt werden.
Der schöne Ort bietet somit, trotz enger Kommunikation, die Face to Face zwischen den Akteuren abläuft, immer noch die Anonymität, die Toiletten(kabinen) innewohnt.
Die Handlung und ihre Akteure
Mit ihren Freundinnen kommt Chloé einem Geheimnis auf die Spur: Im Schulklo finden sie die eingesperrte Pauline, die zunächst nicht mit der Wahrheit herausrücken will und behauptet, eingeschlafen zu sein. Chloé ahnt jedoch, dass sie nicht eingeschlafen ist, wie sie behauptet. Chloé findet heraus, dass Pauline von Angelique und ihrer Clique geärgert und gequält wird. Chloé und ihre Freundinnen Katja und Melanie sowie ihr Klassenkamerad Ernst beschließen, Pauline zu helfen und starten die Aktion, sie zum beliebtesten Mädchen machen zu wollen. Alle Mittel sind ihnen dafür recht und das Ende ist eine Überraschung für alle.
Sonja Kaiblinger hat eine unterhaltsame Geschichte geschrieben, in der die Protagonisten überzeugen und die Leser an eigene Klassenkameradinnen und Situationen in der Schule erinnern – und so die Möglichkeit zur Identifikation bieten. Mit Pauline ist ein Nerd etabliert, der am Rande diverser Schulcliquen steht und nicht Teil derselben ist. Pauline interessiert sich mehr für ihre Hobbies und die Schule. Mit Angelique und ihrer Clique ist entsprechend ihr ‚counterpart‘ implementiert, der als fiese Mitschülerinnen konzipiert ist, die andere ärgern und mobben. Chloé und ihren Freundinnen werden als Schülerinnen gezeigt, die helfen wollen und sich überlegen, wie man KlassenkameradInnen beistehen kann, auch wenn sie in ihrem Übereifer Dinge fehlinterpretieren.
Besonders Protagonistin Chloé sticht hervor, nicht nur durch die Tatsache, dass sie am Welttoilettentag Geburtstag hat, sondern dass sie auch noch Kurioses über Toiletten sammelt und diese Informationen in ihrer EnzyKLOpädie festhält, die ihr ganzer Stolz ist. Dem Leser werden diese Fakten auf unterhaltsame Art als Auszüge zugänglich gemacht, so dass er Einblicke in Chloés Leidenschaft erhält – die Chloé zudem als Figur fassbarer macht.
Thema: Patchworkfamilie
Neben diesen lustigen Fakten steht jedoch das Geheimnis um Chloés Mitschülerin Pauline im Mittelpunkt, das sukzessive aufgelöst wird. Chloé und ihre Freundinnen sowie Ernst wollen Pauline helfen, damit sie nicht mehr geärgert wird. Was sie nicht ahnen: Angelique, ärgste Feindin von Pauline und diejenige, die die Streitigkeiten anzettelt, wird ihre Stiefschwester werden, da sich ihr Vater und Paulines Mutter verliebt haben. Kaiblingers Buch konfrontiert den Leser somit in ihrer Geschichte das Thema der Patchworkfamilie, das vermutlich vielen Lesern nicht fremd ist und mit dem man umzugehen lernen muss. Auch an dieser Stelle finden wieder Kontrastierungen statt, indem der sich bildenden Patchworkfamilie, die hier der Auslöser für die Streitigkeiten zwischen den Mädchen ist und zeigt, dass man mit neuen Situationen umzugehen lernen muss, Chloés Familie gegenübergestellt wird. Es fällt jedoch auf, dass auch hier das Konzept Patchwork aufgegriffen wird: Jedes Familienmitglied geht seinen Interessen und Berufen nach – Chloés Vater ist Werbetexter und „hat die coolsten Sprüche auf Lager […]“ (S. 79), Chloés Mutter ist Psychiaterin mit eigener Praxis im Haus und ihr älterer Bruder Mika besitzt zwei Bartagamen namens Katy und Perry –, trotzdem stehen alle zueinander und für einander ein.
Das mit Chloés Familie natürlich ein Idealbild entworfen wird, das als Folie fungiert, vor der dann das Konzept der sich entwickelnden Patchworkfamilie von Pauline und Angelique entworfen wird, ist dem fortgeschrittenen Leser klar, jüngere Leser erfreuen sich wohl eher an der Exotik der Haustiere, denen im Laufe der Geschichte zusammen mit einem falschen Rockstar noch eine wichtige Rolle zukommt, bei der die Mädchentoilette immer wieder eine wichtige Rolle spielt.
Fazit
Kaiblinger ist eine herrlich abgedrehte Geschichte gelungen mit wilden Streichen, einer glaubhaften Geschichte um eine Patchworkfamilie und einem großen Geheimnis, das es aufzudecken gilt – und die Lust auf mehr macht!
Literatur
Kaiblinger, Sonja: Chloé völlig von der Rolle. Mit Illustrationen von Vera Schmidt. Bindlach: Loewe 2016.
Stumpf, Christiane: Toilettengraffiti. Unterschiedliche Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2013 (Wissen – Kompetenz – Text; Bd. 3).