Viele zeitlose Gesellschaftsspiele erzählen mit einfachen Mitteln gute Geschichten. Die Siedler von Catan erzählt von der Besiedlung einer neuen Welt, in Risiko geht es um nicht weniger als die Weltherrschaft. Die Erzählung dieser Spiele wird mit einfachsten Mitteln angelegt, in der Regel genügt eine paratextuelle Skizze auf der Rückseite der Verpackung und in der Anleitung, um die Spielenden dann den Rest in kollaborativer Zusammenarbeit während dem Spiel ausarbeiten zu lassen. Das reine Verschieben von Spielmaterial wird so zu einer Geschichte von Konkurrenz, Kooperation oder bitterem Verrat.
Durch das Medium des Spiels ist das Erzählte niemals von vorne herein festgeschrieben. Der Spielverlauf leitet die Erzählung, die Spielenden sind nicht nur Rezipienten, welche die ihnen dargebotene Geschichte interpretieren, sondern werden selbst zu aktiven Erzählenden.
Talk of the Town – Narrative Spiele
Während also jedes Spiel eine Geschichte erzählt, gibt es eine Kategorie von Spielen, die die Erzählung bewusst in den Mittelpunkt stellt. Die Spieleseite Boardgamegeek führt diese Spiele unter dem Begriff “Storytelling”. Der Mechanismus dieser Spiele wird wie folgt beschrieben:
“In storytelling games, players are provided with conceptual, written or pictorial stimuli which must be incorporated into a story of the players‘ creation. […] Other storytelling games include […] game designs in which players don’t create their own stories, but instead experience a story from the inside as one of the participants. Games along those lines might present players with a particular narrative situation, after which the player will make a choice that affects which end to the narrative is told – with the results of this narrative affecting the players’ standing in the game.”
Narrative Spiele [Übersetzung des Autors] setzen also ihren Fokus auf die Erzählung. Entweder machen sie die Spielenden dabei zu Akteuren einer bereits konstruierten Geschichte oder geben ihnen Materialien an die Hand, um eigene Geschichten anzufertigen. Populäre Titel der letzteren Kategorie wären beispielsweise Dixit, When I Dream oder Gloom, in welchen im Rahmen des Spielsettings kurze assoziative Kurzgeschichten oder wie im Fall von Gloom ganze, tragische Familienbiographien kreiert werden.
Ein aktuell sehr populärer Titel, der seine Spieler und Spielerinnen zu Protagonisten einer aufwendigen Erzählung macht, ist Chronicles of Crime, welches hier genauer vorgestellt werden soll.
Der Mordfall als Brettspiel
Chronicles of Crime versetzt seine Spielerinnen und Spieler in die Rolle von Ermittlern von Scotland Yard die in London Mordfälle lösen müssen. Das Spiel liefert dafür eine Menge Spielmaterial in Form von bekannten Schauplätzen wie Notting Hill und Westminster, viele potentiell verdächtige Charaktere und Hinweis- und Itemkarten. Alle physischen Spielmaterialien sind bewusst neutral gehalten: Charakterkarten zeigen nur eine Illustration, aber keinen Namen, Alter oder sonstige Identifikationsmerkmale. Ortstafeln zeigen meist die Zeichnung eines Straßenzugs oder einer besonderen Wahrzeichens, aber niemals eine Innenansicht. Das Spiel ist so gestaltet, um sämtliche Materialien in verschiedenen Kombinationen für mehrere Fälle nutzen zu können. Das Material selbst ist also nur austauschbare Requisite für die Erzählung und konstruiert diese nicht selbst.
Kern von Chronicles of Crime ist die dazugehörige App, welche dem Spiel als Erzähler dient. Man wählt ein Szenario aus und folgt dann den Schritten. Um nichts vom eigentlich Spiel zu spoilern, werden im Folgenden ein paar Screenshots aus dem Tutorial gezeigt, welches den ‘richtigen’ Mordfällen vorangestellt ist. Jedes Szenario ist von einer Einleitung und einem Abschluss gerahmt. Zu Beginn wird einen in vielen Fällen ein Kommissar von Scotland Yard um die Mithilfe bei Ermittlung bitten und einem erste Anlaufstellen ermöglichen, etwa die Fundstelle einer Leiche.
Die Interaktion zwischen analogem Spielmaterial und App ist sinnvoll gelöst: Jede Spielkarte enthält einen QR-Code, der mit Hilfe der App gescannt werden kann. Scannt man eine Charakterkarte, kann man diese befragen, scannt man einen Ort, kann man diesen vielleicht nach Hinweisen durchsuchen. Finden kann man durch diese Suche Items und Beweismittel, die wiederum als Karte gescannt werden können. Die App trägt dadurch noch zur Immersion bei, da es recht leicht ist, sich vorzustellen, dass man direkt am Tatort mit Hilfe seines Smartphones recherchiert.
Ein Beispiel aus dem Tutorial: Kommissar Doyle schickt uns in die Wohnung einer älteren Frau, die tot aufgefunden wurde. Die Wohnung können wir durchsuchen, woraufhin die App in einen Virtual Reality Modus wechselt und wir durch Bewegung des Smartphones eine 360 Grad Sicht des Raumes erhalten. Wichtiges Items werden dabei nicht durch irgendwelche Hinweise beleuchtet, die Spielenden müssen sie alle selbst erkennen und benennen.
Im Tatort erkennt man neben der Verstorbenen eine angeschnittene Torte, tote Katzen und ein halb aufgegessenes Tortenstück. Scannt man nun die Items mit den Titeln “Lebensmittel” und “Lebewesen” wird die App bestätigen, dass dies wichtige Indizien für die Lösung des Falls sind. Um weiter voranzukommen, können Spezialisten angerufen werden, zum Beispiel eine Forensikerin. Untersuchen diese die gefundenen Items, kommt man der Lösung des Falls oft schon näher.
Zeit, die im Tutorial noch kein Problem darstellt, kann im weiteren Spiel ein wichtiger Motor der Handlung werden. Jede Aktion kostet die Spielergruppe wertvolle Zeit; eine einzelne Frage kostet jeweils fünf Minuten, ein Ortswechsel bereits zwanzig Minuten. Braucht die Gruppe zu lange, ist die Spur erkaltet und keine weiteren Hinweise mehr auffindbar. Zum Abschluss eines jeden Spiel muss der Fall dann aufgelöst werden, was die App in Form einer Fragenreihe nach dem Täter, der Mordwaffe oder dem Grund des Verbrechens gestaltet. Richtige Antworten bringen Punkte, die zu einem Gesamtscore addiert werden. Ein Richtwert gibt an, ob die Spielergruppe gute Detektivarbeit geleistet hat oder sich beim nächsten Mal vielleicht ein wenig mehr anstrengen sollte.
Mehr Erzählung, weniger Freiheit?
Chronicles of Crime ist definitiv ein sehr hochwertiges Spiel, in dessen Design erkennbar sehr viele Gedanken geflossen sind. Analoges Spielmaterial und digitale App sind hochwertig gestaltet und erleichtern die Immersion, man fühlt sich tatsächlich als aktiver Teil der Geschichte und wichtiger noch, man erkennt definitiv, dass viel Mühe in die Erzählung geflossen ist. Schon die ersten drei aufeinander aufbauenden Szenarien werden geschickt miteinander verwoben und führen die Spielergruppe durch halb London um sie dort mit einer Vielzahl von Charakteren in Kontakt zu bringen, von unkooperativen Drogenabhängigen bis hin zum intriganten Hochadel. Die Mechanismen des Spiels funktionieren und stricken eine dichtes Narrativ, für dessen erfolgreiche Durchdringung die Gruppe mehr als einmal um die Ecke denken muss und auch über Szenariengrenzen hinweg Motive, Beweise und Verknüpfungen im Auge behalten muss. Spielerisch ist der Titel daher auf alle Fälle eine Empfehlung wert.
Ist das Spiel dadurch aber auch genau die richtige Wahl für Spielgruppen, die ihren Schwerpunkt genau auf die Möglichkeit zur Narration legen? Die Antwort ist: Es kommt darauf an. Chronicles of Crime spielt seine Stärken vor allem darin aus, Spielende in eine vorkonstruierte und bereits vollständig angelegte Geschichte zu setzen und diese nachvollziehbar zu machen. Es gibt dabei zwar verschiedene Lösungsabläufe, etwa in Form einer unterschiedlichen Reihenfolge von Zeugenbefragungen, aber es gibt stets einen definitiven Abschluss der Erzählung, welcher entweder erreicht oder verfehlt werden kann. Eine zuverlässige Auflösung des Falls gibt es in jedem Fall, auch wenn die Spielgruppe auf der falschen Spur war.
In dem Maße, wie sich Chronicles of Crime auf die Erzählung konzentriert, umso eingeschränkter werden die Spielenden darin, das Narrativ selbst zu bestimmen. Während der Runde kann es natürlich zu Spekulationen und verschiedenen Geschichtsentwürfen kommen, jedoch werden diese zum Abschluss des Spiels eben eindeutig als wahr oder falsch bestimmt. Der Mechanismus des Spiels beinhaltet somit auch das Risiko, dass die Akteure mit der Geschichte, in der sie die Protagonisten stellen, unzufrieden sind und keine Möglichkeit haben, diese zu ihrem Gefallen zu verändern. Was in Hinblick auf einen Roman, einen Film oder eine Serie der Normalfall ist, wird im Medium des Gesellschaftsspiels tatsächlich zu einer Einschränkung: Der Reiz von Spielen liegt gerade in ihrer Interaktivität und in der Möglichkeit, innerhalb eines Rahmens von Regeln seine eigene Erzählung in die Hand zu nehmen. Gefällt mir bei Risiko meine Rolle als defensiver Spieler nicht mehr, kann ich alles auf eine Karte setzten, im richtigen Moment Einheiten eintauschen und aggressiv vorgehen.
In Chronicles of Crime haben Spielerinnen und Spieler vor allem die Aufgabe, die Geschichte bis zu ihrem erfolgreichen Ende zu verfolgen. In der Narration des Spiels sind sie damit weiterhin die Protagonisten, bezogen auf die Mechanismen des Spiels sind sie eher Statisten: Sie erzählen keine Geschichte, sie ermöglichen es einer Geschichte, erzählt zu werden.
Dies macht Chronicles of Crime auf keinen Fall zu einem schlechten Spiel – es ändert nur den Blick auf den Begriff des ‘Storytelling’. Ob man sich mit dieser Art der Erzählung anfreunden kann, muss zum Schluss natürlich jede Person für sich selbst entscheiden.
Quellen
Boardgamegeek: Storytelling. Webseite. URL: https://boardgamegeek.com/boardgamemechanic/2027/storytelling. Letzter Aufruf am 14.01.2019
Chronicles of Crime. 2018. Lucky Duck Games. Gesellschaftsspiel.