Telltales 2012 erschienenes Episodenspiel The Walking Dead (1. Staffel) spielt meisterlich mit dem Gewissen seiner SpielerInnen. In diesem Artikel wird ein Blick darauf geworfen, wie Spielmechanik und Erzählweise des Titels dessen Spieler steuern. Da der Text Spielszenen als Beispiele für seine Argumentation nutzt, sei an dieser Stelle vor grundlegenden Spoilern zur Handlung gewarnt.
Endlich mal richtig heulen
Gerade habe ich den zombifizierten Sohn eines neben mir zusammengekauerten Vaters erschossen, nachdem dessen Mutter dieser Aufgabe nicht gewachsen war und sie sich selbst das Leben genommen hat. Ziemlich genau zur Hälfte des Spiels, in der Mitte der 3. Episode, sitze ich zu diesen Bildern heulend vor meinem Fernseher. Bei jedem Blick auf den Fernseher sehe ich ein Diorama meiner Entscheidungen, zusammengesetzt aus der Rückenansicht meines Avatars, des neben mir sitzenden Vaters und den Leichen von Mutter und Sohn. Zu diesem Zeitpunkt hat es der Titel geschafft, in mir Gefühle der Schuld, Ohmacht, Trauer und Wut aufzubauen, die sich an dieser Stelle nun auf eine Art und Weise entladen, wie ich es noch nie in einem Videospiel erlebt habe.
Wie schafft es The Walking Dead, in mir diese persönliche Betroffenheit auszulösen? Wieso nehme ich in diesem Spiel großen Anteil an Schicksalen und Toden von Figuren, während mich andere Titel mit ähnlichen Elementen kalt lassen? Ein Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen ist es, zu untersuchen, wie die Geschichte von Moral und Konsequenzen erzählt und auf welche Weise dies geschieht.
Die Mechanik des Unangenehmen
The Walking Dead ist von seiner Struktur her ein Point and Click Adventure. Die Spielerin steuert den größten Teil der Spielzeit einen Avatar namens Lee Everett, einen frisch verurteilten Mörder, der zu Beginn des Spiels ins Staatsgefängnis von Georgia transportiert werden soll. Der Ausbruch der Zombieapokalypse verhindert dies jedoch, es kommt zu einem Autounfall, welcher Lee auf freien Fuß setzt.
Der Kampf gegen Zombies oder menschliche Gegner nimmt lediglich einen kleineren Teil der Spielzeit ein. Stattdessen baut der Titel auf (simple) Kombinationsrätsel und ausführliche Gespräche mit Figuren der Spielwelt. Kernelement ist dabei, dass man in den Dialogen immer wieder gezwungen ist, grundlegende Entscheidungen unter Zeitdruck zu treffen. In solch einem Fall erhält man vier Auswahlmöglichkeiten, eine davon ist stets, nichts zu sagen. Keine der Optionen kann dabei als die ‘Richtige’ identifiziert werden, immer bleibt das Potential vorhanden, einen oder mehrere seiner Gesprächspartner zu verärgern. Kann man sich vor Ablauf eines eingeblendeten Zeitstrahls nicht selbst für eine Antwort entscheiden, übernimmt dies ein Zufallsgenerator.
Der Clou von The Walking Dead liegt in dessen Merkfähigkeit. Der Leitsatz des Spiels ist “The story is tailored by how you play” (The Walking Dead 2012) und wird zu Beginn jeder Episode eingeblendet. Trifft man eine Entscheidung, verändert dies die Haltung der restlichen Figuren und beeinflusst an manchen Stellen den Fortgang des Spiels. Spielt man mit zusätzlichen Anzeigehilfen, wird dieser Speicherprozess durch die Einblendung einer Textzeile sichtbar gemacht: “[Figur x] will remember this” (The Walking Dead 2012) Im weiteren Spielverlauf werden Reaktionen von Interaktionsfiguren somit durch die Aktionen des eigenen Avatars beeinflusst. Hat man sich beispielsweise für Kenny, den Vater aus der oben beschriebenen Szene, im Fortgang der Ereignisse als treuer Freund erwiesen, wird dieser einem am Ende des Spiels auf der Suche nach Clementine begleiten. Hat man sich zu oft gegen ihn gestellt, wird er einen alleine losziehen lassen (um dann jedoch an späterer Stelle wieder aufzutauchen). Seine Begründung gibt in diesem Fall einen Einblick in die Spielmechanik: “You might not have keeping score, Lee, but I have. And you’ve been looking out for yourself more often than your friends” (The Walking Dead 2012).
Immer wieder wird der Spielerin deutlich gemacht, dass sie nie alle Spielfiguren auf ihre Seite ziehen kann. Schon in der ersten Episode wird man oft von mindestens zwei Gesprächsgruppen mit verschiedenen Ansichten konfrontiert. Diplomatisch formulierte Antworten, sofern überhaupt als Option vorhanden, führen meistens nur dazu, dass man beide Lager vor den Kopf stößt. Trifft man also die Wahl des vermeintlich geringsten Widerstands, ‘bestraft’ einen das Spiel mit sinkenden Sympathien in der Gruppe. Die Spielerin wird so förmlich dazu getrieben, unangenehme Entscheidungen zu treffen, alleine schon deswegen, weil ‘angenehmere’ Varianten fehlen.
Zombieapokalypsen sind so…
The Walking Deads roter Faden führt an Katastrophen und Trauerfällen entlang. Wie beispielsweise ein “Silent Run” des Spiels zeigt, ist die grundlegende Handlung des Spiels keineswegs davon abhängig, welche Entscheidungen man mit seinem Avatar trifft. Letztlich hat man vor allem Einfluss darauf, in welcher Stimmung die Gruppe der Überlenden in den nächsten unausweichlichen Ernstfall stolpern wird. In der ersten Episode werden auf einem Bauernhof zwei Personen beim Bau eines Zauns von Zombies angegriffen. In der Notsituation muss man sich entscheiden, ob man zuerst den jungen Farmer Shawn oder Kennys Sohn ‘Duck’ retten will (oder aber, wie im hier verlinkten Beispiel, nichts zu tun).
Unabhängig von der Wahl des Spielers wird die Szene damit enden, dass Shawn von den Zombies getötet wird, während Duck überlebt. Der Abschnitt gipfelt darin, dass Shawns Vater alle Schutzsuchenden von seiner Farm verbannen und Kenny dem Spieler eine Mitfahrt nach Macon anbieten wird. Beeinflussbar ist durch die Taten Lees lediglich die Stimmung der Szene: Hilft man bei der Rettung von Duck, wird Kenny einem die Fahrt direkt offerieren. Hilft man nicht, wird vor dem Angebot ein langer Blick der Familie auf Clementine, Lees Schutzbefohlene, eingefügt. Die Entscheidungen, zu denen einen die Spielmechanik treibt, verändern das Erzählte nur in Nuancen, wie hier einem Blick, der der Szene allerdings eine ganz neue Bedeutungsebene zukommen lässt: Im ersten Fall halten Ducks Eltern das Handeln des Avatars für moralisch richtig, im zweiten Fall verurteilen sie die ausgelassene Hilfe, denken aber an das Wohl des Kindes in Lees Obhut.
Die Transformation von Bedeutung erzeugt das Spiel auch durch das Setting der Zombieapokalypse. Durch die ständige Bedrohung kommt ehemaligen Alltagshandlungen eine besondere Schwere zu. So ist allein schon die Entscheidung, ob man einem kleinen Mädchen ihre geliebten langen Haare abschneiden sollte, beeinflusst von ganz praktischen Fragen des alltäglichen Überlebens. Nachvollziehbarerweise nennt Ryan Smith eine Situation, in der man Nahrungsmittel an die Gruppe verteilen muss und dabei zwangweise nicht alle satt kriegen wird “The most harrowing section of The Walking Dead” (Smith 2013). Es sind vor allem diese ruhigen Momente, die dem Spieler seine Verantwortung klarmachen: Egal, wie man die Vorräte aufteilt, Mitglieder der Gruppe werden sich auf vielfältige Weise beschweren, sei es über ihren eigenen Hunger oder den Hunger von nahestehenden Personen. Auch wenn in dieser Szene niemand umkommen kann, wird mühelos eine Stimmung erzeugt, die die Ernsthaftigkeit der Situation nicht eine Sekunde in Frage stellt.
I, Lee Everett
The Walking Dead erzählt in all seinen Medienformen davon, dass auch in einer apokalyptischen Extremsituation der Mensch das wahre Übel bleibt. Nicht die triebgesteuerten Zombies, sondern der Zusammenbruch des fragilen gesellschaftlichen Kontrollsystem bringen die handelnden Figuren immer wieder in ernste Probleme und kosten sie oft genug das Leben.
An dieser Stelle kommt dem Spiel eine besondere Qualität zu, die es vom Medium der Serie und des Comics unterscheidet. Man ist als Spieler interagierender Teil der Gruppe, verkörpert durch den Avatar Lee Everett. Die Alltäglichkeit mancher Aufgaben sorgt für eine Anschlussfähigkeit, welche dazu auffordert, den eigenen moralischen Kompass zu hinterfragen. Folgender Ausschnitt aus einem Blogartikel von Jagoda zeigt, wie sehr Spieler und Avatar zusammenwirken:
“Nur langsam beginne ich zu realisieren, was ich gerade getan habe. Ich habe einem Menschen das Bein abgetrennt, um ihn aus einer Falle zu retten. Hätte ich es nicht getan, hätten ihm die Walker […] vielleicht einen sehr grausamen Tod beschert. Nein, nicht vielleicht. Definitiv. Es war für mich unausweichlich, aber ich empfinde keine Genugtuung. Keine Befriedigung und keine heldenhaften Allüren. Widerwärtig, unmenschlich war meine Handlung und doch unausweichlich. Doch wer ist eigentlich dieses “Ich”, das diese Tat vollbrachte? Warum fühle ich mich nun schlecht und möchte das Spiel beinahe beenden? War das wirklich Ich, die ich dort saß und klickte? Ich, die Figur auf dem Bildschirm in Gestalt von Lee, dem verurteilten Mörder? Lässt sich beides trennen? Die Kluft zwischen digitalem Ich und analogem Ich war noch nie so klein.” (Jagoda 2013)
In seiner Rolle ist die Akteurin vor allem zuständig für den Schutz von Clementine und das eigene Überleben. Jedoch bringt es die innere Logik von Spielen mit sich, dass man sich in kürzester Zeit für die Geschicke der gesamten Gruppe verantwortlich fühlt. Das Ziel eines jeden Spiels ist vor allem, es zu spielen und an einem bestimmten Punkt zu beenden. Um das Ende zu erreichen, muss in der Regel erfolgreich gespielt, die Hürden und Aufgaben der Welt gemeistert werden. Erfolg ist dabei in einem Großteil der Fälle eben mit dem Gelingen der eigenen Aktionen verbunden. An genau dieser Stelle setzt The Walking Dead an und transformiert den Begriff des erfolgreichen Spielverlaufs durch eine ständige Abfolge von Katastrophen. Die Handlung führt an einem festgelegten roten Faden entlang. Als Spieler ist man gezwungen, die Handlung zu erdulden und gleichzeitig bemüht, sie so gut als möglich zu einem Besseren zu wenden.
Momente wahrer Trauer
Diese Bemühungen werden von der Spielmechanik jedoch meistens vereitelt, wie ein Blick auf die eingangs geschilderte Szene zeigt: Duck soll erschossen werden, bevor er sich in einen Zombie verwandelt. Auf die Frage, wer diese Aufgabe übernehmen soll, kann man Ducks Mutter, Vater oder sich selbst vorschlagen. Die getroffene Wahl wird nichts daran ändern, dass Katjaa mit Duck im Wald verschwindet um sich dort selbst zu erschießen. Zurück bleiben Lee, Kenny und ein im Sterben liegender Duck. Anschließend wird man zur Entscheidung gezwungen, ob Kenny oder Lee Duck erschießen, oder ob man ihn einfach sterbend im Wald zurücklässt. Zum Abschluss dieses Kapitels werden Katjaa und Duck nicht mehr Teil der Gruppe sein, während Kenny stets überleben wird.
Die Gemachtheit der Situation tritt an einer solchen Stelle hinter die Stärke der Inszenierung zurück. Ich hatte mich in dieser Szene dafür ausgesprochen, dass Ducks Mutter die Bürde tragen sollte. Meine Entscheidung war nicht die sicherste Wahl, sondern eine Gewissensentscheidung. Das Spiel hatte mir bis hierher vor Augen geführt, dass Katjaa gefestigter und stärker als Kenny ist. Lee selbst durfte diese schwere Bürde den Eltern meiner Ansicht nach nicht abnehmen. Ich hätte dies als moralisch nicht vertretbar empfunden.
Die starke Betroffenheit, die viele Rezipienten empfinden, entsteht aus einer Kombination von Spielmechanik und Erzählung, welche an deren Gewissen apelliert. Die Vermischung von alltäglichen und dramatischen Szenen kreiert gleichermaßen eine starke Anschlussfähigkeit und Momente, die überraschen und schockieren. Der Spieler muss Entscheidungen treffen, die ihn in vielen Fällen zwingen, ethisch und moralisch Stellung zu beziehen. Der Fortgang der Handlung verändert sich durch diese Stellungnahmen mal mehr und mal weniger, führt aber immer an einer feststehenden Dramaturgie entlang.
Der Claim “The story is tailored by how you play” ist deswegen nicht falsch, er bekommt nur eine andere Bedeutung. Statt dem Spieler zu erlauben, sich sein Spiel komplett selbst zu schneidern, ermöglicht es ihm, seine eigene Verfassung, quasi sein Gewissen, durch die Schnittstelle des Avatars in die Spielwelt einzubringen, sich das Spiel maßgenau anzupassen, und das unabhängig davon, ob er eine Rolle spielen oder ‘er selbst’ sein möchte. Dem Titel gelingt es somit, sich selbst als auch den Akteur ernst zu nehmen. In The Walking Dead spielt das Gewissen des Spielers eine Rolle, es strahlt in die Spielwelt hinein, wird von dieser aufgenommen und in eine sichtbare Reaktion verarbeitet. Diese Verschaltung von Mechanik, Inhalt und Präsentation der Erzählung und eigenen Entscheidungen erlaubt es schließlich, das Spiel sehr stark auf sich selbst als handelnden Akteur zu beziehen. Dieses sehr komplexe Gewebe ist es, welches mich so emotional reagieren lässt. Wie vielleicht noch nie in einem Spiel zuvor bin ich mein Avatar, bin ich in der Welt des Spiels. Und wie es eben in der Welt so üblich ist, zwingt sie mir ihre Regeln auf. Wenn dies bedeutet, über den Tod von Freunden weinen zu können, ist dass völlig in Ordnung.
Medien
furdabip: The Walkind Dead Silent Run – Part 4. They don’t call him Duck ’cause he’s smart. 2012. http://youtu.be/LVjVu21mlwQ. Letzter Zugriff am 19.01.2014. Internetvideo.
Jagoda: Die Grenzen meines Mediums. The Walking Dead. 2013. http://videogametourism.at/node/1703. Letzter Zugriff am 19.01.2014. Internetartikel.
Smith, Ryan: Empathy Games. Finding the virtues amid the violence of Telltale’s The Walking Dead. 2013. http://gameological.com/2013/05/empathy-in-the-walking-dead/. Letzter Zugriff am 19.01.2014. Internetartikel.
The Walking Dead. The Game. Telltale Games. 2012. Computerspiel
Walking dead telltale game dialog screenshot.jpg. http://en.wikipedia.org/wiki/File:Walking_dead_telltale_game_dialog_screenshot.jpg. Letzter Zugriff am 19.01.2014. Screenshot.