Frühjahr 1970, Fairbanks, Alaska. Ruth ist verliebt in Ray Stevens. Ray riecht nach Zedernholz, wie das Haus in dem er wohnt, und seine Küsse schmecken nach „Freiheit und Abenteuer“. Ganz anders also als Ruths Küsse, die, so denkt sie, nach „stickiger Enge“ schmecken müssen, genau wie das Haus ihrer Großmutter, in dem sie und ihre kleine Schwester Lily aufwachsen. Ein Haus, in dem es „nach Schimmel und gebrauchten Möbeln roch. Nach Sünde und Schuld.“ (23) Ein Haus, das auch ganz anders riecht, als das zu Hause in dem Ruth ihre Kleinkindjahre verbracht hat. Dort wo ihre Mutter einst überall Wildblumen verteilt hatte, und das Blut von frischem Hirschfleisch durch die Hände ihres Vaters auf den Boden getropft war.
Bilder der Armut und Unsicherheit
Gerüche haften Menschen und Objekten an, erzählen von deren Vergangenheit und ihren Umständen, schaffen Vertrautheit und Fremdheit. Multiperspektivisch berichtet Der Geruch von Häusern anderer Leute so von einem Jahr im Leben mehrerer Jugendlicher an der Grenze zwischen Alaska und Kanada. Was alle Geschichten miteinander verbindet, sind die Armut und die Unsicherheit, welche die Leben der ProtagonistInnen dominieren. Alle Jugendlichen leben in eher bescheidenen Verhältnissen. Ihr Alltag ist geprägt von ihren Interaktionen mit ihren als Beschützer und Vorbilder versagenden Elternfiguren. Doras Vater ist ein aggressiver Alkoholiker und misshandelt seine Tochter. Ihre Mutter zeigt kein Interesse an ihrem Wohlbefinden, feiert lieber mit Freundinnen und kauft sich auf pump Alkohol. Der Vater von Hank, Jack und Sam, ein Fischer, kam bei einem Tsunami ums Leben. Der neue Lebenspartner ihrer Mutter ist dem Bier zugetan, dominant und benimmt sich dem jüngsten Bruder, Jack, gegenüber feindselig. Ruths Oma lebt nach strengen, religiösen Verhaltensgrundsätzen. Positive Selbstwahrnehmung wird im Rahmen dieser sofort als Eitelkeit ausgelegt, so dass Ruth von ihr etwa als sechsjähriges Mädchen brutal die Haare abgeschnitten bekommt, als sie stolz von sich sagt „Ich bin rundum schön.“ (25)
Welt der zerbrochenen Familien
Glück ist ein Gut, dem hart beizukommen ist in Fairbanks, Alaska. Adoption, Tod, Scheidung, die Jugendlichen leben in einer Welt der zerbrochenen Familienbande, in der sich kaum jemand für sie interessiert. Der Roman verzichtet dankeswerter Weise darauf, aus dieser Ausgangssituation märchenhafte Erfolgsgeschichten oder übertrieben tragische Enden zu spinnen. Vielmehr werden kleine Schritte gezeigt, die zwar nicht aus der Armut führen, wohl aber zu einem besseren Miteinander. Zentral dafür ist die Rolle von Ersatzbeschützerfiguren, die Verantwortung übernehmen und die Jugendlichen auffangen, ihnen Stabilität schenken, auch dann, wenn sie nicht daran glauben, dass jemand ausgerechnet ihnen beistehen würde. Damit ist der Roman ein starkes Plädoyer für Empathie. Den Geruch der Häuser anderer zu kennen, bedeutet, sich mit Mitmenschen auseinanderzusetzen und, so nötig, Hilfsbereitschaft zu zeigen.
Unbekannte Welt Alaska
Der Geruch von Häusern anderer Leute ist ein Roman über Jugend im Jahr 1970 in einer Kleinstadt in Alaska. Alaska ist erst seit circa einem Jahrzehnt ein amerikanischer Staat. Die Bevölkerung spaltet sich Größtenteils in Weiße und verschiedene Ureinwohnerstämme auf. Viele in der Bevölkerung leben vom Fischfang. Das Buch zeigt damit einen Kulturraum und Moment in der Geschichte, der für deutsche LeserInnen völlig fremd sein dürfte. Der Roman hält vieles zu entdecken, zu verstehen und natürlich zu riechen bereit. Er schafft ein eindringliches Bild einer wenig bekannten Jugend, die sich irgendwo zwischen Ballettunterricht, stinkenden Kojen, Eskimo-Eis, geschmacklosem Dosenfisch, lebensrettenden Orcas, verrauchten Bars, Milch-und-Honig Gesichtscreme und warmen Hirschherzen abspielt. Eine interessante Übersetzungsentscheidung vom Verlag, die sich gelohnt hat.
Literatur
Hitchcock, Bonnie-Sue: Der Geruch von Häusern anderer Leute. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Hamburg: Königskinder Verlag, 2016.