Der perfekte Kuss

Der perfekte Kuss von André Kubiczek reiht sich in eine Liste von neu erschienen Romanen ein, die von einer männlichen Jugend in Ostdeutschland erzählen. Doch anders als die viel besprochenen Texte von Hendrik Bolz, Daniel Schulz und Domenico Müllensiefen thematisiert Kubiczek die Gewalt nur am Rande, welche junge Männer um die Wende im ehemaligen Ost-Deutschland erfahren und auch selbst ausgeübt haben. Dieser Unterschied entsteht durch den Protagonisten René in Kubiczeks Roman, der manchen Leser_innen schon aus den zwei Vorläufern von Kubiczeks Trilogie bekannt sein könnte und der sich trotz allem jugendlichen Wiedersinn als Teil des gesellschaftlichen Systems der DDR begreift und nicht dagegen aufbegehrt.

Alles kommt anders als gedacht

In diesem abschließenden Roman begleiten die Leser_innen René bei seinem letzten Schuljahr an der Arbeiter- und Bauernfakultät in Halle (Saale), bevor er für ein Studium der „Organisation der materiell-technischen Basis“ in die Sowjetunion gehen soll. Das Jahr 1986 ist für ihn aber ein Jahr, in dem Alles ganz anders kommt als gedacht. Denn nach den Sommerferien ist nicht nur seine eigentliche feste Freundin Rebecca nicht mehr erreichbar für ihn, sondern auch sein Zukunftsplan wird für ihn immer weniger greifbar.

Suche nach dem richtigen Weg in sozialistischen Bahnen

René fängt in seinem Prozess des Heranwachsens an, Grundlegendes in Frage zu stellen: Das Funktionieren des realexistierenden Sozialismus in der DDR und sein Interesse daran, seinen Platz in der Staatlichen Plankommission einzunehmen. Während er an eine Verbesserung der politischen Lage der DDR durch die von Gorbatschow eingeleiteten Veränderungen der Sowjetunion glaubt, verliert er den Glauben an die Richtung des Weges, den er eingeschlagen hat. So kommt es durch die Häufung von verschiedenen Umständen, mehr zufällig als geplant, dazu, dass er doch nicht den für ihn vorgesehen Abschluss machen wird, sondern eine selbstbestimmtere Richtung einschlägt.

André Kubicezk als Ost-Pendant von Sven Regner

André Kubicezk findet einen liebevoll ironischen Ton, um von der Suche nach Antworten auf die großen und kleinen Fragen des Heranwachsens seines Protagonisten René zu erzählen. Es ist die Erzählung einer männlichen Jugend, wie sie z.B. von Sven Regner aus seinen Romanen rund um die Figur von Frank Lehmann bekannt ist: Einer Jugend in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die von keinen großen Krisen erschüttert wird und sich zwischen anderen jugendlichen, skurrilen Figuren abspielt, die beim Biertrinken und Zigarettenrauchen versuchen, einen Platz mit ihrer ganz eigenen, intellektuellen Version von Männlichkeit in der Gesellschaft zu finden. Doch gibt es in Kubizceks Text einen deutlichen Unterschied zu Regeners erzählten Kosmos, denn die jugendliche Suche von René und den Figuren um ihn findet unter besonderen Parametern statt: unter denen der DDR. Anders als in der freien Marktwirtschaft der BRD in den 80er Jahren, sind in der DDR nicht alle Produkte immer zu Verfügung und es gehört zum Alltag der Jungen auf der Suche nach Platten, Büchern, schicker Kleidung oder auch Zigaretten zu sein:

Eine ganze Woche funktionierte das wunderbar: tagsüber Juwel 72, abends nach dem ersten Bier Karo. Als ich das Konzept in der zweiten Woche fortführen wollte, waren auch Karo nicht mehr zu kriegen. Selbst der Optimismus der Verkäuferin war verschwunden. Statt mich auf eine nächste utopische Lieferung zu vertrösten, sage sie mit matter Stimme: ‚Versuchen Sie es mal mit Montecristo.‘

S. 135

Die KJL-Forschung hat für den Adoleszenzroman herausarbeiten können, dass Marken und Waren häufig der Identitätsstiftung dienen und trotzdem scheint die nicht unbegrenzte Verfügbarkeit von Waren die Figuren nicht wirklich zu stören. Vielmehr bringt diese Unverfügbarkeit eine Entschleunigung in ihre Jugend, die sich auch in der Erzählweise niederschlägt.

Männliche Jugend in den letzten Jahren der DDR

In einem unaufgeregten Ton vermittelt Kubiczek mit seinem Roman aus der Ich-Perspektive ein Gefühl dafür, wie es gewesen sein kann, als Junge in der DDR aufzuwachsen. Die Leser_innen treten durch die detaillierte, der Realität nahe kommende Beschreibung des Raumes der Erzählung, der sich für René zwischen den Städten Halle (Saale), Potsdam und Berlin aufspannt, eine Zeitreise an und können einmal die „rauchgeschwängerte Luft“ (S. 57) schnuppern, die es in den Kneipen und in den durch Kohle beheizten Städten der DDR in ihren letzten Jahren gab. Auch wenn sich der Roman thematisch von den eingangs erwähnten Texten abhebt, indem er nicht von jungen Männern erzählt, die unter dem staatlichen und gesellschaftlichen System leiden, so hat er doch mit ihnen gemein, dass durch sie ein eindimensionale Perspektive auf Jugend in der DDR geworfen wird – nämlich eine ausschließlich männliche.

Literatur

Bolz, Hendrik: Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2022.

Kubiczek, André: Der perfekte Kuss. Berlin: Rowohlt 2022.

Müllensiefen, Domenico: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon Verlag 2022.

Schulz, Daniel: Wir waren wie Brüder. München: Carl Hanser Verlag 2022.

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