Vom Cover des Comics schaut ein skeptisch blickender Mann auf den schattigen Umriss einer Kinderwiege; vorsichtig lugt er um die Tür herum, versteckt sich halb dahinter und traut sich nicht recht in den Raum hinein. Er steht im Gegenlicht, der angedeutete Flur hinter ihm ist hell erleuchtet, während der Innenraum des vor ihm liegenden Zimmers im Dunkeln liegt. Bildstark führt Fabien Toulmé so auf seinem Titelbild bereits in das Spannungsfeld der Erzählung ein. Der programmatische Titel unterstreicht das im Bild transportierte Unbehagen weiter: Dich hatte ich mir anders vorgestellt… Eine schwere Enttäuschung und ein massiver Erwartungsbruch an die eigene Familienzukunft markieren den zentralen Reibungspunkt, den der Comic verhandelt. Im Mittelpunkt stehen die Erlebnisse einer jungen Familie, deren zweite und neugeborene Tochter zunächst nicht ihren Erwartungen entspricht: die kleine Julia wird mit dem Gendefekt Trisomie 21 geboren und stellt alle Planungen auf den Kopf.
Schonungslos, ehrlich und sehr einfühlsam wird davon aus der Sicht des Familienvaters erzählt, der das Geschehen im Panelbild durch seine rückblickenden Kommentare im Blockkasten ergänzt. Dieser Ansatz zeigt sich als geschickte erzählerische Strategie, die der Darstellung der erzählten Gegenwart im gezeichneten Bild eine weitere Reflexionsebene hinzufügt. Gerade in dieser gewählten Konstruktion liegt die besondere Stärke des Comics, denn was der Vater in den Blockkästen aus seinem Inneren Preis gibt, erzählt ungeschönt von seinen Gefühlen und gibt Einblicke in das angespannte Seelenleben. Offene und bisweilen drastische Geständnisse fächern das Gefühlschaos dieser Zeit auf und lassen ihn nicht als perfekten Menschen erscheinen, der sich sofort rührend um seine Tochter kümmert. Es bleibt viel Raum für Wut und Trauer, die das Glück der Geburt nachhaltig trüben. Mit Blick auf den autobiographischen Kern der Handlung, gewährt Toulmé einen intimen und berührenden Einblick in seine Erfahrungen. Diese Topographien des Zweifels vermisst Toulmé in seinem Comic eindringlich; in der drastischen Ehrlichkeit führt dieser auch zu gewollten Aufstörungen: „Ich frage mich, wieso es solche Kinder heutzutage überhaupt noch gibt […]“ (S. 44) und entwickelt aber gerade über diesen offenen Umgang eine enorme Glaubwürdigkeit.
Der fremde Blick: Vom Fremdsein und Fremdsehen
Umfassend und ohne Auslassungen beschreibt Toulmé, mit welchem Unbehagen die Vaterfigur dem Kind gegenübersteht: lange Zeit, beinahe ein Jahr lang, kann er dieses gar nicht als sein eigenes empfinden (vgl. S. 65) und scheut sich nicht, diese Eindrücke offen einzugestehen: „Dagegen ist Julia eine Fleischroulade“ (S. 63). Wie ein Fremdkörper dringt dieses Kind in das bisher glückliche Familiengefüge ein, stellt die Eltern vor massive Herausforderungen und der Vater mag sein Kind nicht einmal auf den Arm nehmen, ganz zu schweigen davon, Liebe für das Mädchen zu empfinden. Zu lähmend sind die Angst vor den Herausforderungen und seine Unsicherheit im Umgang mit der Behinderung.
Die Stärke des Comics, die Kombination von Text- und Bildkanal, wird in diesen Schilderungen voll ausgespielt und greift das permanente Gefühl des Fremdseins auch als ein Fremdsehen auf. Subtil unterstreicht die Farbgebung – jedes der Kapitel ist unisono immer in einem einzelnen Ton gehalten – die Stimmungen der Handlung. Gleichzeitig nutzt Toulmé den Bildkanal auch, um das Innenleben des Protagonisten tatsächlich sichtbar zu machen. Immer wieder brechen seine imaginierten Tagträume, Ängste und Nöte in die erzählte Gegenwart ein und überlagern das Geschehen. Seinen dramatischen Höhepunkt findet dieses Erzählverfahren etwa, als der Vater von der Diagnose seiner Tochter erfährt: ein ganzseitiges Splash-Panel stellt den daraus resultierenden Zusammenbruch plastisch dar, indem diverse Textfragmente und assoziative Bilder in einem regelrechten Strudel um die Figur herum strömen (vgl. S. 78). Die beiden Wahrnehmungsebenen von Innen und Außen werden so konsequent eng geführt und für den Leser nachvollziehbarer gemacht.
Aus dem populärkulturellen Bilderfundus
In dieser Parallelität öffnet sich – trotz der oft dramatischen Szenen – auch ein humorvoller Zugriff auf die Erfahrungen in dieser Zeit. Toulmé spielt virtuos mit populärkulturellen Zitaten und bindet diese nonchalant in seine Erzählwelt ein: so stellt er die verzweifelte Suche nach dem Büro eines Facharztes in die Tradition der Queste von Asterix und Obelix auf der legendären Jagd nach Passierschein A38 (S. 122); imaginiert sich in der Entgrenzung während seiner Traurigkeit selber als wütender Hulk (S. 96), nimmt Bezug auf Super Mario Spiele, die die Entwicklungsfortschritte seiner Tochter augenzwinkernd ins Bild setzen (S. 216-217) und verortet den damit verbundenen Behandlungsmarathon in „Handicapland“ (S. 113). In ebendieser Herangehensweise liegt die bestechende und berührende Qualität des Comics: ehrliche Reflexionen über die Traurigkeit stehen ebenso neben lustigen Anekdoten, die das gesamte Gefühlsspektrum eindrucksvoll einfangen. Der Vater hatte sich seine Tochter zwar anders vorgestellt, nähert sich vorsichtig an und stellt fest, dass es doch schön ist, dass sie da ist. So erzählt der Comic zwar von großer Traurigkeit, aber auch vom großen Glück.
Literatur
Fabien Toulmé: Dich hatte ich mir anders vorgestellt… Berlin: avant, 2015.