Die Favoritin

In dem Comic Die Favoritin erzählt Matthias Lehmann von einer aufstörenden Kindheit. Die Ausgangslage mutet zunächst noch recht harmlos an: ein kleines Mädchen wächst in der Nachkriegszeit in einem französischen Dorf bei ihren Großeltern auf. Ihre Eltern hat sie nie kennen gelernt, und was mit ihnen geschehen ist, weiß sie nicht, denn über dieses Thema wird strenges Stillschweigen gewahrt. Schnell zeigen sich dann auch frappierende Risse in der Familienkonstruktion, denn die Großeltern erweisen sich keinesfalls als liebevoller Elternersatz und der Comic leuchtet schonungslos die angespannten Beziehungen der Figuren untereinander aus. Insbesondere die Großmutter entpuppt sich als ein herrschsüchtiges Oberhaupt, das sowohl Ehemann als auch Enkeltochter tyrannisiert. Kammerspielartig wird das Haus zur einengenden Bühne der Protagonisten und sukzessive falten sich im Mikrokosmos des Hauses immer größere Abgründe auf. Das Kind wird bei kleinstem Ungehorsam von der Großmutter drastisch bestraft – nachts auf den Dachboden verbannt oder mit der Peitsche geschlagen –, während der Großvater wegschaut. Das Haus darf das Kind kaum verlassen und andere Gleichaltrige sind ihr fremd, denn sie wird zu Hause unterrichtet. So ist ihr Heranwachsen ein isoliertes und massiv gestörtes, das sich mit den individuellen psychischen Brüchen der Großeltern verschränkt. In einzelnen Rückblenden wird auch deren Geschichte schrittweise zusammengesetzt und zeichnet deren Ambivalenzen nach.

Die Fratzen der Erwachsenenwelt  – Zur Bildsprache

Die Spannungen und Disharmonien des familiären Miteinanders fängt der graphische und experimentelle Erzählstil Lehmanns in der Comicform beeindruckend ein. Der kräftige schwarz-weiß Duktus ist an das künstlerische Verfahren des Holzschnitts angelehnt und lässt ebenfalls Reminiszenzen an die Amerikanische Underground-Comix-Bewegung der 1970er Jahre erkennen. Mit dieser vermeintlich ‚rohen‘ Bildästhetik und den kennzeichnenden harten Schraffuren arbeitet Lehmann umso virtuoser die psychischen Brüche der Figuren heraus. Die Gesichter der Erwachsenen erscheinen stets als regelrechte Fratzen, unerbittlich in das Papier gebrannt und bilden die subjektive Wahrnehmung der feindlichen Umgebung aus der Sichtweise des Kindes ab: die Großmutter ist fast immer ein hakennasiges Ungeheuer, während der Großvater eine überzeichnete Karikatur eines dicklichen Mannes ist. Aber auch die Verzweiflung, den Hass und das Aufbegehren der kindlichen Figur fängt dieser Zeichenstil ein, zeigt es keinesfalls als strahlende Heldin, sondern als ebenso wie ihre Großeltern brüchige Person. Über den piktoralen Code entwickelt sich so eine beklemmende Atmosphäre, die durch das variantenreiche Spiel mit den Panelformen, der Seitenarchitektur und den Textfragmenten weiter verdichtet wird. Immer wieder lösen sich klare Konturen und Strukturen auf und verweisen über die äußere Form auf das hilflose Trudeln der Protagonistin.

Zwischen den Geschlechtern

Die düstere Stimmung der Bilder korreliert unmittelbar mit den Ereignissen der Handlung und die Konflikte nehmen diverse unerwartete Wendungen: das vermeintliche Mädchen ist eigentlich ein Junge, wird von der Großmutter jedoch im anderen Geschlecht aufgezogen. Aus dieser erzwungenen Gender-Maskerade ergeben sich weitere Spannungen, etwa als das Kind von einem anderen Jungen geküsst wird. Der/die Protagonist_in ist eine zerrissene Figur, die sowohl mit ihrer aufgestörten Geschlechtsidentität hadert als auch mit dem gewaltvollen Umgang in der Familie. Daran schließen sich im Verlauf noch weitere Plot-Twists an, die hier jedoch nicht gespoilert werden sollen.

Die Favoritin ist ein beeindruckender Comic, der ungeschönt von menschlichen Abgründen und Verzweiflungen erzählt und dies klug mit den graphischen Erzählstrategien verwebt. In diesem Spannungsfeld entfaltet sich eine ge- und zerstörte Kindheit, die auch den Leser aufgestört zurücklässt.

Literatur

Matthias Lehmann: Die Favoritin. Hamburg: Carlsen 2016.

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