Die Reise zum Mittelpunkt toxischer Männlichkeit

Cover Die Reise zum Mittelpunkt des WaldesDie aktuelle gesellschaftliche Debatte um Feminismus, Gender-Divergenzen und fragwürdige Rollenbilder, Zuschreibungen und Machtgefällte ist – das zeigten in diesem Jahr Hashtags wie #metoo, #toxicmasculinity und #menaretrash – aufgeladen. Während die einen sich für Diversität, Gerechtigkeit und Vielfalt einsetzen, fühlen sich andere bedroht und sehen ihre bewährten und komfortablen Machtstrukturen im Prozess der Auflösung begriffen. Sich diesen gegenwärtigen sozio-kulturellen Kontext des Jahres 2018 zu verdeutlichen, ist wichtig, wenn man den neuen Roman Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes von Finn-Ole Heinrich liest. Vor der Folie zeitgenössischer Verhandlungen und zunehmender Infragestellung von starren Geschlechternormen ist es erstaunlich, welch ein archaisches, eindimensionales und toxisches Männlichkeitsbild dieser Roman entfaltet.

Rolle rückwärts – Männlichkeitsbilder

Die Hauptfigur und Ich-Erzähler wird zum ersten Mal Vater. Während seine Frau noch schwanger ist, plagen ihn jedoch Zukunftsängste und Sorgen, ob er diese Rolle überhaupt ausfüllen kann. Verstärkt wird das Unbehagen des jungen Mannes durch seine konservativen Schwiegereltern, die ihn beständig darauf hinweisen, als Versager nicht gut genug für ihre Tochter zu sein. Insbesondere finanzielle Sorgen treiben ihn um, denn seine Frau besorgt das Haupteinkommen. Zu allem Überfluss müssen sie gemeinsam in das Gartenhäuschen der Schwiegereltern ziehen und kehren damit nicht nur in den elterlichen Einflussbereich zurück, sondern verlieren auch ihre autonome Handlungsmacht. In der Ausgangslage weist der Roman damit eigentlich eine interessante Konstellation von Geschlechterbildern auf: Das traditionelle Versorgermodell vom Mann als Alleinverdiener ist aufgelöst und die Hauptfigur steht sinnbildlich für ein ‚neues‘ Bild von Männlichkeit mit sanften Seiten. Er ist weder handwerklich begabt, noch nimmt er die Rolle des Oberhauptes ein. Problematisch ist jedoch, dass der Roman im Verlauf diese Anlage umkehrt, den Protagonisten zurückführt zu einem überformten Männlichkeitsideal, das mit körperlicher Stärke, Durchsetzungsfähigkeit und rüden Manieren assoziiert ist und diesen Prozess als erstrebenswerten Entwicklungsweg nachzeichnet.

Der Wald – Eine archaische Raum-Zeit-Insel

Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes rückt, wie der Titel bereits andeutet, den Wald als Handlungsraum in den Fokus. Dies geschieht nicht zufällig, denn der Wald ist als literarisches Motiv zwischen Bedrohung und Schutz ambivalent codiert und fungiert häufig als wilder und unberührter Naturraum, der der menschlichen Kultur kontrastiv gegenüber steht. Entsprechend agieren die Figuren, die sich im Wald aufhalten, häufig als normative Grenzgänger. Mit genau dieser raumsemantischen Dualität arbeitet auch Finn-Ole Heinrich und nutzt die topographische Struktur für die Aushandlung von Männlichkeitsentwürfen. Dabei reproduziert er jedoch problematische Stereotype: Im vertrauten Raum Zuhause erweist sich die Hauptfigur als verweichlichter Mann, der seine Familie nicht versorgen kann, was textintern als zentrales Problem markiert wird. Er fasst daher den Plan, seine Frau wortlos zu verlassen, um sich im wilden Wald vom Sagenumwobenen Reuber (ohne ä) zum ‚richtigen‘ Mann ausbilden zu lassen.

Der Wald wird hier zur archaischen Insel im Raum-Zeit-Gefüge einer postmodernen Welt, in der noch ursprüngliche, einfache und klare Regeln und Gesetze herrschen. Der Reuber ist das patriarchale Oberhaupt dieser hermetisch abgeschlossenen Welt und wacht sehr genau darüber, wer sich wie im Wald bewegt. Er ist dabei nicht nur in seiner körperlichen Erscheinung ein massiver Hüne mit wildem Rauschebart, sondern spricht auch in einem Kauderwelsch. Sowohl in Körper- als auch Sprachkonstruktion wird damit ein spezifisch ‚starkes‘ Männlichkeitsbild als Ideal entworfen, das eindimensional und überformt ist. Vom Reuber will der Protagonist lernen, endlich sein Leben in den Griff zu bekommen. Kommunikation findet zwischen den beiden nur auf einer rudimentären, teilweise grunzenden und vulgären Ebene statt, was das Vorurteil fortschreibt, dass Männer eben nicht über einen ausdifferenzierten Gefühlshaushalt verfügen und sich kaum um andere Dinge als Nahrung und körperliche Ertüchtigung kümmern, bzw. sich entsprechend nicht artikulieren können.

Ein Reuberleben – Rituale

Die Ausbildung zum Reuber verläuft – dem vormodernen Ablauf des Rituals folgend – in mehreren Phasen: Die Hauptfigur verlässt ihren vertrauten Raum, muss sich im Wald bewähren und kehrt im Anschluss als gewandelte Figur zurück. Die Phase der Ausbildung bzw. Bewährung nimmt in der Handlung den größten Raum ein. Detailliert wird beschrieben, wie der Protagonist vom Reuber in die Praktiken männlicher Ideale eingewiesen wird. Dies sind beispielsweise verschiedene körperliche Ertüchtigungen oder die Fähigkeit im Freien zu übernachten und im Wald Nahrung zu beschaffen. Bezeichnenderweise war die Figur nämlich nur mit einem Rucksack voll Weingummi-Tiere als Proviant angereist. Sinnbildlich verweist diese weiche Beschaffenheit seiner Nahrung auch auf seinen Körper. Immer wieder wird betont, dass er übergewichtig, weich und schwach ist. Dieses äußerliche Körperbild verschiebt sich im Laufe der Handlung sukzessive, wenn plötzlich Muskeln wachsen und die Figur sich besser bewegen kann. Ein Mann zu sein heißt hier dann auch, körperlich stark zu sein. Die Reuber-Ausbildung gipfelt schließlich in der finalen Bewährungsprobe, bei der der Mann zwei Frauen überfällt, verängstigt und brutal an einen Baum fesselt. Auf drastische Weise werden die weiblichen Figuren hier zum alleinigen Verfügungsmaterial über das die Männer bestimmen. Der Text legitimiert diesen Übergriff zudem darin, dass den Frauen eine Teilschuld zugewiesen wird, denn sie sind laut schnatternd und in unpassender bunter Kleidung durch den Wald gewatschelt. Ob bewusst oder unbewusst: Damit tangiert der Roman ein weiteres problematisches Narrativ, denn so wird den Opfern selbst eine Schuld zugeschrieben. Da hilft es auch nicht, dass die Figur die Frauen mit einem Spezialknoten an den Baum bindet, sodass sie sich nach vier Stunden wieder befreien können. In der Zwischenzeit bleiben sie im Unklaren, ob ihnen noch Schlimmeres widerfährt oder ob sie überhaupt gehen dürfen. Die Hauptfigur kehrt nach dieser finalen Probe und dem absolvierten Ritual hingegen zurück in ihre vertraute Welt. Bezeichnenderweise beginnt der Mann unmittelbar damit, im Garten etwas zu bauen. Die Fähigkeiten, die ihm zuvor fehlten, hat er nun erworben und kann seiner Familie ein Heim schaffen.

Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes – Erzreaktionäre Normen und Werte

Liest man den Handlungsverlauf nicht nur auf der bloßen Ereignisebene, sondern den Text auch als Verhandlungsraum von Geschlechterbildern, Rollennormen und gesellschaftlichen Werten, ergibt sich hier ein deutliches Bild in Schieflage. Ein starkes körperbetontes Männlichkeitsbild wird als Ideal propagiert. Dabei reproduziert der Roman zum einen ein fragwürdiges Muster des Erzählens, zum anderen ebenso problematische Vorstellungen von Geschlecht. Das ist besonders schade, da sich Finn-Ole Heinrich in den letzten zehn Jahren mit avancierten Kinder- und Jugendromanen profiliert hat, die u.a. auch mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurden. In seinem neuesten Werk rutscht ihm jedoch ein problematischer Subtext hinein, der ein toxisches Bild von Männlichkeit perpetuiert. Bemerkenswert ist zudem, dass der Roman in der Aufmachung – mit den sehr gelungenen Illustrationen von Rán Flygenring und dem extradicken Pappeinband – im Kinder- und Jugendbuch angesiedelt ist. Im Text selbst wird jedoch keine kindliche oder jugendliche Perspektive thematisiert, stattdessen steht das Wunschszenario eines erwachsenen männlichen Versorgers im Vordergrund.

Literatur

Finn-Ole Heinrich (2018): Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes. Reuberroman. Illustriert von Rán Flygenring. Hamburg: Mairisch.

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