Vom Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt

Die wahre Geschichte von Regen und Sturm

Ann M. Martins 2015 im Deutschen bei Königskinder erschienener Roman Die wahre Geschichte von Regen und Sturm schildert einen Auszug aus dem Leben von Ruth Howard, einer Fünftklässlerin, die in der Nähe von New York aufwächst. Ruth mag die Beschäftigung mit Zahlen, Regeln und Sprache, präziser gesagt, mit Homophonen und Homonymen, also Worten, die gleich ausgesprochen, aber unterschiedlich geschrieben werden. Ihre Leidenschaft für diese Worte macht sie im Text immer wieder dadurch deutlich, Homonyme durch das Hinzufügen der verwandten Wörter zu kennzeichnen. So lautet die Überschrift des ersten Kapitels folgerichtig „Wer ich bin – Ein Mädchen namens Ruth (ruht)“ (S. 7).  Ruth hat außerdem hochfunktionalen Autismus. Der Roman wird dadurch zu einer Geschichte über Andersartigkeit, ohne von der Protagonistin auf diese Art erzählt zu werden. Denn eigentlich geht es um die Geschichte, wie Ruths Hund Regen in einen Sturm geriet.

Die Regeln einer wahren (Waren; waren) Geschichte

Ruth und ihre Hündin Regen haben eine harmonische Beziehung. Dieser Zustand ist für Ruths Leben verhältnismäßig einzigartig, denn im Laufe der Erzählung wird deutlich, dass das Zusammenleben mit ihr für ihre Mitmenschen schwierig sein kann – oder, anders gewendet, ihre Mitmenschen schwierig für Ruth sind. Regen aber ist ein Ruhepunkt im Leben des Mädchens, eine Vertraute, mit der sie sich von Beginn an wortlos versteht. Ihr Vater bringt sie ihr eines Abends mit nach Hause, er hat sie als herrenloses Tier auf dem Hinterhof einer Bar entdeckt, Schutz suchend vor einem Unwetter. Vom ersten Moment an scheint eine starke Beziehung zwischen Ruth und Regen zu herrschen:

Ich starrte zu ihr hinunter. Die Hündin starrte zu mir herauf.
„Du kannst sie streicheln“, sagte mein Vater. „Das machen normale Menschen mit Hunden.“
Also streichelte ich sie und sie schloss die Augen und drückte sich fester an mich. […]
In dieser Nacht schlief Regen bei mir in meinem Bett. Und das hat sie seitdem in jeder einzelnen Nacht so gemacht.  (S. 34f)

Sturm (das Wetter) und Regen (das Tier) sind im Roman verbunden, denn genau wie die Hündin in einem Unwetter zur Familie gefunden hat, geht sie in einem eben solchen auch wieder verloren. Ein Hurrikan trifft die Region mit ungewohnter Stärke, reißt ganze Häuser nieder und verwüstet die Straßen. Im Chaos des Sturms verschwindet Regen, nachdem sie von Ruths Vater in der Nacht zur Tür herausgelassen wurde, um ihr Geschäft zu verrichten. Ruth bemerkt ihr Fehlen erst am nächsten Morgen, doch da ist es schon zu spät: die Hündin ist nicht mehr auf dem Grundstück, welches in der Zwischenzeit von einem reißenden Bach voller Trümmerteile durchkreuzt wird. Ihr Vater vermutet, dass sie von der Strömung erfasst worden sein könnte und ist nicht sonderlich hilfreich bei der Suche. Da der Sturm die Brücke über den Bach weggerissen hat, können die beiden ihr Grundstück zusätzlich einige Tage lang nicht verlassen. Erst Ruths Onkel hilft ihr bei der Suche, macht Anrufe und fährt mit ihr zu Tierheimen in der Umgebung. Wie die Suche nach Regen verläuft und was in der Geschichte sonst noch so passiert, soll an dieser Stelle aber nicht verraten werden.

Hier steckt vieles (fiel es) im Subtext

Ruth erzählt ihre eigene Geschichte und markiert als deren Kernelement die Suche nach Regen. Ihr Autismus, auch wenn von ihr sehr früh im Text benannt, spielt im Aufbau dieser Geschichte keine zentrale Rolle. Trotz allem prägt ihre Situation den gesamten Text und  als Grundprinzip sowohl ihren Erzählstil, als auch große Teile der Handlung. Die Auffassung, dass ihr Autismus nicht zentral ist, kann dennoch vertreten werden. Von der Erzählerin selbst nur selten bewusst thematisiert, ist der Autismus vor allem Alltag, eine ständige Konstante, die Ruths Leben regelt. Ihre stark ritualisierten Routinen sind allgegenwärtig und strukturieren ihren Tagesablauf, von der Begleitung durch ihre Hilfslehrerin Mrs. Leibler über die Betreuung durch ihren Onkel bis hin zur entspannenden Wirkung von Regens Anwesenheit. Zu Ruths Normalität gehört es, dass sie laut wird, sich manchmal selbst schlägt, wenn einfache Regeln in ihrer Umgebung verletzt werden, wenn etwa jemand im Unterricht nicht aufpasst oder ein Auto beim Abbiegen nicht blinkt. Ihre Reaktionen mögen dann zwar in ihrer Erzählung eine Erwähnung wert sein, sind aber nichts Außergewöhnliches an sich. Außergewöhnlicher (und damit eine Erzählung wert) ist dagegen, wenn ein Hurrikan derart stark ist, dass er das Inland erreicht, oder wenn eben durch diesen Hurrikan ihr Hund davonläuft.

Dass Ruth von ihren Mitmenschen als anders wahrgenommen wird, ist ihr bewusst, jedoch bereitet ihr dies kein starkes Kopfzerbrechen. Sie nimmt es vielmehr wie einen nicht zu ändernden Zustand hin, mit dem sie durchaus zufrieden sein kann: „Ich bin die Einzige in der Klasse, die sich für Homonyme und Homophone interessiert. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich die meisten Kinder nicht für Homophone interessieren. Wenn ihr dieses Kapitel also lieber überschlagt, ist das kein Problem“ (S. 19). Andersartigkeit, so wird deutlich markiert, liegt erstens im Auge des subjektiven Betrachters und ist zweitens durchaus zu akzeptieren. Umgekehrt haben jedoch nicht alle Figuren der Erzählung diesen entspannten Umgang mit Ruths Verhalten. Ihr Vater bittet sie immer wieder, doch einfach normal zu sein, um ihm nicht so viele Schwierigkeiten zu machen. Selbst wenn er ihr eine Freude machen will, kann er sich von diesen Denkmustern nicht lösen: als er Regen mit nach Hause bringt, fordert er Ruth auf, diese doch zu streicheln, da dies eben das sei, was normale Menschen mit Hunden täten (S. 34). In der Erzählung wird so deutlich, dass es dem Vater auch um die Aufrechterhaltung des Anscheins von Normalität geht. Trotz Ruths eindeutiger Diagnose, die auch in der Schule bekannt ist, leugnet er das Verhalten seiner Tocher: „Ruth bekommt zu Hause keine Anfälle, nicht, wenn ich in der Nähe (nähe) bin“ (S. 47f). Dies ist gelogen, wie an vielen anderen Stellen des Romans deutlich wird, und zeigt, wie wenig sich der Vater mit Ruths Andersartigkeit arrangieren kann.

Ihm gegenüber steht die Figur von Ruths Onkel Weldon, der all das zu verkörpern scheint, was ihr Vater nicht ist: Er setzt sich für seine Nichte ein, ist geduldig und einfühlsam, hilfs- und kompromissbereit. Vor allem aber akzeptiert er ihr Verhalten und integriert dieses ganz natürlich in ihre gemeinsamen Begegnungen: „Das ist doch mal was, Ruth“, sagt Onkel Weldon. „Und stell dir vor, mir ist heute ein neues Homophon für dich eingefallen. Was sagst du dazu: ‚Pakt‘ und ‚packt‘!“ (S. 141). In den Figuren von Ruths Vater und Onkel zeigt der Roman gleichermaßen zwei unterschiedliche Erziehungsmodelle und zwei Methoden, mit ihrem Autismus umzugehen. Wichtig ist dabei, dass Ruths Vater vor allem als überfordert dargestellt wird, nicht als generell an seiner Tochter desinteressiert. Er ist alleinerziehend, hat nicht viel Geld und offensichtlich kein sehr hohes Bildungsniveau. Dennoch gibt es gerade gegen Ende des Romans immer wieder Ereignisse, die zeigen, dass er im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten versucht, seine Tochter gut aufzuziehen.

Mehr Offenheit wagen (Wagen/ Waagen)

Dass ihr Vater als vielschichtige Figur dargestellt wird, liegt an Ruths Narration. Ihr Stil ist nüchtern und direkt, man bekommt als Leser den Eindruck, dass sie Szenen wirklich genau so schildert, wie sie passieren. Ihr Bedürfnis nach Regeln schlägt sich auch auf ihre Erzählung nieder, bis zu dem Punkt, wo sie über die Funktionen ihrer Rede spricht: „So erzählt man eine Geschichte: Zuerst führt man die Hauptperson ein. Ich schreibe diese Geschichte über mich, also bin ich die Hauptperson“ (S. 8). Ihre stellenweise von anderen als taktlos empfundene Ehrlichkeit macht auch vor ihrer eigenen Geschichte nicht halt:

Diese Dinge sind nicht so interessant wie Homophone, Homonyme oder Primzahlen. Es sind nur Informationen. Aber ihr werdet sie brauchen, wenn ihr spätere Kapitel lest wie „Kapitel 19: Regen kommt nicht, wenn ich rufe“, das am Tag nach Hurrikan Susan spielt. (S. 83f).

Die Art der Erzählung ist insgesamt sicher nicht realistisch. Für eine Fünftklässlerin ist Ruths Stil zu weit entwickelt, ihr Verständnis für die Regeln von Prosa geht weit über das Niveau der beginnenden Mittelstufe hinaus. Natürlich könnte man ihren Autismus als eine Erklärung für ihr Regelwissen heranziehen, doch die Qualität des Stils erscheint dennoch zu hoch. Dies soll aber gar nicht als relevante Kritik am Roman verstanden werden: Der Stil passt insgesamt gut zum Charakter der Hauptfigur, gerade der Fokus auf Homonyme und Homophone ist ein geeignetes Stilmittel, den Autismus auch auf der Ebene des Textes zu verhandeln. Eine Autistin zur Ich-Erzählerin einer Geschichte zu machen, sorgt in Die wahre Geschichte von Regen und Sturm für einen normalisierenden Umgang mit Autismus. Da die Protagonistin mit diesem Zustand lebt, wird er von ihr automatisch nicht gewertet, sondern als Normalzustand gelebt. Viele Nebenfiguren zeigen außerdem, wie gut sich eine autistische Person in den Alltag integrieren kann: Weder kann Ruths Klasse wegen ihr nicht mehr effektiv lernen, noch werden ihr Vater und ihr Onkel bedeutsam in ihren Tagesabläufen gestört. Stattdessen zeigt der Roman in vielen kleinen Stellen, wie bereichernd es sein kann, sich unvoreingenommen mit Andersartigkeiten auseinanderzusetzen. Dies weiß auch die Ruth: „Das gehört zu den vielen Dingen, die mir an Homonymen und Homophonen gefallen. Die meisten haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, andere sind Gegensätze, aber einige wenige bilden auch schöne Verbindungen, wenn ihr dafür offen seid, eure Perspektive zu ändern“ (S. 236f).

Literatur

Martin, Ann M.: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. Hamburg: Königskinder Verlag, 2015.

 

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