Vom 4. bis 6. Februar fand an der Universität Zürich die internationale Tagung “Weltwissen und Weltdeutung in Schul- und Kinderbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts” statt. Als Veranstalter zeichneten das Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, das Georg-Eckert Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung Braunschweig, das German Historical Institute Washington D.C. und das Schweizerische Institut für Kinder – und Jugendmedien in Zürich für die Tagung verantwortlich. Mannigfaltig wie die Veranstalter waren auch die Fachbereiche, die sich hier trafen, um interdisziplinär über Weltwissen und Weltkonstruktion in Kinder- und Schulbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu diskutieren und zu erörtern, wie digitale Sammlungen im Sinne einer Digital Humanities genutzt und ausgewertet werden könnten. So begegneten sich auf der Tagung Informatiker, Informationswissenschaftler, Historiker, Kulturwissenschaftler und Literaturwissenschaftler.
Donnerstag, 4. Februar 2016
Die Veranstaltung wurde eröffnet von einem einführenden Vortrag von Simone Lässig zu “Wissen und Welten in Bewegung: Globalisierungs- und Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts”. Nach einer groben Übersicht über die Wissensgeschichte, wies Frau Lässig auf die Auswirkungen der Auswanderungswelle nach Nordamerika hin, die ein wachsendes Interesse an der Welt entstehen ließ. Zudem ging sie auf die Rolle von Schulbüchern ein, die als Resultat einer mit der Schulpflicht einhergehenden Normierung und Beglaubigung von Wissen Einblicke liefern können, was gesellschaftlich breit verhandelt wurde und welche Informationen die Weltsicht der Kinder speisten. Ebenso, so Frau Lässig, bedürfe es jedoch der Reflektion darüber, welche Schulbücher wirklich gelesen wurden und wie diese Einfluss auf Kinder nehmen konnten, waren doch Fachbücher kaum flächendeckend vorhanden und fungierten doch Lehrer zudem oft als Übersetzer des abgedruckten Wissens.
Im nächsten Vortrag, “Heidis Herz und Alices Kopf”, stellte Christine Lötscher die beiden Ikonen der Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts einander gegenüber und arbeitete Unterschiede in der Interaktion der weiblichen Protagonisten mit Literatur heraus. Beide Bücher sind, so Lötscher, Geschichten über “Sinn und Zweck des Lesenlernens”. Feiert jedoch Alice das Spiel mit Zeichen und unterstreicht ihrer arbiträre Natur, findet Heidi ihren Platz in der Gesellschaft, indem sie über das Vorlesen die Präsenz der Dinge in den Worten heraufbeschwört. Caroline Roeder sprach in ihrem darauf folgenden Vortrag von der “Bibliothek als Wissenraum” und zeichnete “Die Entstehung von Kinder- und Jugendbuchbibliotheken in historischer Perspektive und in Kinder- und Jugendliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts” nach. Als besonders bemerkenswert empfand Frau Roeder, dass die Kinderlesehallen, welche in den 1920er und 30er Jahre sehr präsent in der Lebenswelt von jungen Lesern waren, in der Kinder- und Jugendliteratur der Zeit keine Erwähnung fanden. Gabriele von Glasenapps Vortrag “Archive des Wissens. Jüdische Schul- und Lesebücher im 19. und 20. Jahrhundert” beschäftigte sich mit der Annäherung der jüdischen Schul- und Lesebücher an die der nicht-jüdischen Bevölkerung, welche im Zuge der Aufklärung stattfand. Die Schüler sollten über eine Inkorporation der deutschen Sprache, weiterer Gattungen und Texten von nicht-jüdischen Autoren mit der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft vertraut gemacht werden. Ute Dettmars Vortrag zu “Grenzerfahrungen: Deutsche Wildwest- und ‘Indianer’-Romane des 19. Jahrhunderts als Medien kultureller Selbstverortungen” schloss den Abend ab. Neben den Illustrationen und Landschaftsbeschreibungen widmete sich Frau Dettmar besagter kultureller Selbstverortung der Romane, die den Indianer als “rechtschaffenden Underdog” zeichnen, der in dieser Funktion auch für den Deutschen steht. Dennoch, so Dettmar, finden keine Grenzüberschreitungen statt. Vielmehr werden Figurationen von Zerrissenheit dargestellt, die Dualismen ausstellen, aber nicht durchbrechen.
Freitag, 5. Februar 2016
Der zweite Tag begann mit einem Vortrag zu “Weltwissen in naturgeschichtlichen Anschauungsbüchern für die Jugend des Verlags von J.F. Schreiber in Esslingen (1840 bis 1900)” von Sebastian Schmideler. Schmideler wies darauf hin, dass das 19. Jahrhundert als Industriezeitalter auch der Beginn der Kinder- und Jugendliteratur als massenproduziertes Medium war. Der Schreiber Verlag tat sich im wachsenden Markt dadurch hervor, dass er Lithographien mit leuchtenden Farben zeigte, die sowohl Lehr- wie auch Unterhaltungspotential aufwiesen. Regina Schleicher gab anschließend einen Einblick in “Weltwissen in Französisch-Lehrwerken für den Fremdsprachenunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland”. Die Bücher, so Schleicher, stellen Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt. Nationalismus, aber auch brisante Themen, wie die Arbeiterbewegung, Fabriken und Ideen der Aufklärung werden ausgeblendet. Den Sprung vom Sachbuch in die Kinder- und Jugendliteratur machte Miriam Schneider, die über “Monarchie und Abenteuer: Systemstabilisierung im Jugendbuch” sprach. Im Zentrum ihrer Ausführungen standen Abenteuerromane vom Ende des 19. Jahrhunderts, die mehr oder weniger lose die Seereisen des Matrosenprinzen Heinrich von Preußen aufgriffen. Über die Romane wurde den LeserInnen, so Schneider, ein exklusiver Blick auf die Welt geboten. Sie bedienten zudem den Technikhunger der Bevölkerung und schufen ein Bild von Prinz Heinrich als modernem Ritter und geborenem Anführer, der als mutiger Steuermann Schiff sicher durch den Sturm lenkt.
Den Nachmittag eröffnete Katharina Stornig mit ihrem Vortrag “‘Hast Du nicht Mitleid mit deinen Brüderchen und Schwesterchen in China?’ Kindermissionsliteratur und die Verbreitung von relationalem Weltwissen im Kaiserreich”. Wie Stornig aufzeigte, widmete sich Kindermissionsliteratur, welche einen großen Einfluß auf das Weltbild hatte, der Unterweisung von Kindern in Barmherzigkeit und damit christlicher Moral. Das dort vermittelte Wissen sei jedoch nicht rein passiv, sondern schüfe über den Aufruf zur aktiven Teilnahme am Spendensammeln das Narrativ vom Kind als Partizipienten an der Welt. Mit Fotis Jannidis’ Vortrag wandte sich die Tagung schließlich den Digital Humanities zu. Jannidis lieferte eine übersichtliche Einführung in die quantitative Textanalyse, die mit Ausführungen zu persönlichen Erfahrungswerten angereichert war. Im Zentrum der Digital Humanities stehen zwei Aspekte: die Aufbereitung von Quellen und die Auswertung von Quellen. Dabei, so Jannidis, finden gewisse Transformationsprozesse statt. So verliert sich immer mehr die haptische Komponente von Literatur. Dafür werden im Quantitativen bestimmte Merkmale / Metadaten wichtiger und neue Erkenntnisse können gewonnen werden. Im Anschluss gaben Maik Fiedler und Ben Heuwing einen Einblick in die Arbeitsweisen des Projekts “Welt der Kinder”. Um diese zu verdeutlichen, wurde der hermeneutische Zirkel erklärt und dann den Methoden der Digital Humanities gegenüber gestellt. Der Tag endete mit einer vielseitigen und aufschlussreichen Podiumsdiskussion zu “Chancen und Grenzen der Digital Humanities für die Auswertung nichtwissenschaftlicher historischer Quellen.” (Ein Überblick über die Diskussion folgt separat.)
Samstag, 6. Februar 2016
Mit strahlendem Sonnenschein und einem Beitrag von Jennifer Askey zu “Queen Luise and the Education of Prussia’s ‘höhere Töchter’” begann der letzte Tagungstag. Sie führte am Beispiel der eigenen Forschung vor, wie kostenlose Digital Humanities Werkzeuge helfen können Thesen zu hinterfragen und unerwartete Fragen zu stellen. Problematisch seien jedoch der intensive Zeitaufwand, um die Texte zu digitalisieren sowie die Tatsache, dass kostenlose Digital Humanities Software nicht darauf ausgerichtet ist, die deutsche Sprache zu verstehen und zu verarbeiten. Als zweites sprach Bérénice Zunino über “Krieg und Militär in der außerschulischen Kinder- und Jugendliteratur am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1911 – 1914)”. Die Kinder- und Jugendliteratur der Vorkriegszeit, so Zunino, kann als Teil einer Sozialisierung im Sinne einer Kriegskultur verstanden werden. Anlässlich der Gedenkfeier zur Schlacht von Leipzig dominieren 1912/13 Kriegshelden die Bilderwelt der Kinder. Diese werden zu Urenkeln dieses damaligen Heldengeschlechts stilisiert und damit über den Rückbezug radikalisiert. Andreas Weiß warf anschließend einen Blick auf die Darstellung des deutschen Bruderkrieges und des amerikanischen Bürgerkriegs in Schulbüchern des Kaiserreiches. Ergänzend wies er auf Kinder- und Jugendliterarische Werke zu diesem Themenbereich hin.
Das letzte Panel der Tagung eröffnete Gargi Gangopadhyay. Ihr Vortrag “School Texts and Homely Tales: Imperialism and Nationhood in Children’s Books in Colonial Bengal” nahm die gespaltene literarische Sozialisation bengalischer Kinder Ende des 19. Jahrhunderts in den Blick. So stellte die schulische Bildung einen Bruch mit der kulturellen Vergangenheit des Landes dar. Indische Texte und Legenden wurden durch den Kanon der britischen Kaiserreiches ersetzt. Familiäres Geschichtenerzählen begann zu verschwinden. Kinder- und Jugendliteratur, führte Gangopadhyay aus, nahm sich daher einer Wiederbelebung der indischen Mythen an und suchten die verlorengegangene orale Tradition zu gut wie möglich zu ersetzen. Bahar Gürsel sprach zu “The Issues of National Identity and Alterity in Nineteenth-Century American Geography Textbooks”. Geographiebücher übernehmen eine zentrale Rolle im Prozess der Darstellung des Eigenen und des Anderen. Sie visualisieren die Grundzüge der fremden Nation und definieren gleichzeitig was es bedeutet (in diesem Beispiel) Amerikaner zu sein. Dieses Wechselspiel führte Gürsel anhand einer breiten Auswahl an Auszügen aus amerikanischen Geographiebüchern des 19. Jahrhunderts vor. Mit einem anschaulichen Vortrag zu “Geography Textbooks, Representations of the World, and the Rhetorical Construction of Otherness in Canada, 19th Century” von Catherine Larochelle schloss die Tagung.
Fehlender Wille zur interdisziplinären Zusammenarbeit?
Die Tagung war vorbildlich organisiert. Der Ablauf war reibungslos, das studentische Organisationsteam stets zur Stelle und immer freundlich. Die Verpflegung war reichhaltig, der Apéro Riche genussvoll und das Servicepersonal hilfsbereit und energetisch (vor allem die Dame, die mit Eifer die Sektgläser immer wieder auffüllte). Die Entscheidung, den letzten Vortrag des ersten Tages nach den Verzehr des Fingerfoods und des großzügig bereitgestellten Alkohols zu platzieren, hatte zudem einen wundervollen Hauch von Komik. Zürich präsentierte sich als perfekte Tagungsstadt, auch dadurch, dass der Himmel blau war und die Alpen schneebehangen in der Ferne zu sehen waren.
Dennoch hinterließ die Tagung kein ungebrochenes Gefühl von Zufriedenheit. Dies lag an der geringen Achtung für den Gegenstand vieler Beiträge: Kinder- und Jugendliteratur. So fiel schon am ersten Tag die Bemerkung, dass das Projekt “Welt der Kinder” bei ihren quantitativen Analysen keinen Unterschied mache, ob Weltwissen in einem Sachbuch oder in Literatur für Kinder vermittelt würde. Ähnliche Aussagen, dass Kinderliteratur als historische Quelle in ihrer Eigenschaft als Literatur irrelevant würde, begleiteten die gesamte Tagung und warfen die unschöne Frage auf, warum explizit mehrere Kinder- und Jugendliteraturwissenschaftler als SprecherInnen zur Tagung eingeladen worden waren. Diese Perspektive auf Kinder- und Jugendliteratur, die zu einem gewissen Grad wohl einfach grundsätzliche, von vielen sicher als altmodisch empfundene, Methodiken der Analyse historischer Quellen widerspiegelte, ging einher mit einer Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur und Schulbüchern, die teils doch sehr vereinfachend war. So wurden Schulbücher und im selben Zug Kinder- und Jugendbücher mehrmals als ideale Objekte für die quantitative Untersuchung von vermitteltem Weltwissen hervorgehoben. Der Grund für diese Nutzbarkeit wurde in der inhaltlichen Ausrichtung dieser Texte gesehen: Kinder- und Jugendliteratur biete einen Einblick in das als gesetzt geltende Wissen einer Gesellschaft, sei schematisch und konservativ. Nicht nur wurde dabei jeweils auf eine zeitliche Einordnung, für die diese Befunde gelten sollten, verzichtet. Auch wurde irritierender Weise eine angebliche Homogenität von Kinder- und Jugendliteratur einfach vorausgesetzt. Dass bei einer interdisziplinär angelegten Tagung solche grob ungenauen, fast schon nachlässigen Aussagen getroffen werden, ist mehr als bedauerlich.
Es bleibt daher zu hoffen, dass dies nicht das letzte Treffen war, sondern weitere Veranstaltungen dazu beitragen, diese interdisziplinären Startschwierigkeiten zu überwinden. Hatte doch gerade die Podiumsdiskussion und die Ausführungen von Fotis Jannidis gezeigt, wie gewinnbringend Informatik, Geschichtswissenschaften und Literaturwissenschaften zusammenarbeiten könnten.