Dies ist der zweite Teil der Rezension von Djihad Paradise. Hier geht es zu Teil 1.
Achtung: Spoiler!
Romea – der halbe Mensch
Irgendwie, so könnte man durchaus behaupten, geht es in Djihad Paradise nicht um Terrorismus, sondern um Liebe. Romea und Julian, in Julians Worten die „fetteste Lovestory, die unsere Schule jemals gesehen hatte.“ (21) Hier endet die intertextuelle Vergleichbarkeit jedoch erst einmal. Auch als Bonny und Clyde bezeichnen sich die beiden ab und an, wenn sie vom Ausstieg und von Abenteuern träumen. Doch ein ganz anderer Intertext wird wirklich zentral für die Betrachtung ihrer Beziehung: Die kleine Meerjungfrau.
Immer wieder träumen Julian und Romea von Szenen aus dem Märchen oder der Disneyverfilmung des Märchens. In Bezug auf Romea funktioniert dies einigermaßen gut. Für sie stellt sich im Laufe der Handlung, vergleichbar mit der Meerjungfrau, immer öfters die Frage, wie weit sie bereit ist zu gehen, um ihren Geliebten zu halten. Romea imaginiert sich selbst als Undine, als Wesen, halb Mensch, halb Fisch. Für Julian jedoch, gibt sie an, „würde ich meinen Urozean verlassen und mich an irgendeinen Strand der Welt neu erheben als Romea-2.0. Anders. Freier. Mehr Romea als jemals zuvor.“ (70) Für Julian würde sie Mensch werden. So träumt Romea eines Abends in der Salafiyya-Gemeinde schließlich davon, wie sie den Zaubertrank der Meerhexe trinkt. Sie bekommt Beine, doch als sie mit Julian sprechen will, da kann sie nicht mehr reden. Dieser wendet sich daraufhin von ihr ab. Als Reaktion auf diesen Traum willigt Romea ein zu konvertieren und Julian zu heiraten. Sie ist sich ihrer Entscheidung zwar nicht sicher, doch kann diese auch nicht mehr zurücknehmen. „Ich hatte den Trank der Meerhexe schon geschluckt…“ (226), eröffnet sie daraufhin. Im Traum führt Romeas Stummheit dazu, dass Julian sich von ihr abwendet. Dennoch ist Romeas Schlussfolgerung daraus, dass sie ihre Stimme von nun an der von Julian, dem sie als Ehefrau untertan sein muss, unterordnen möchte. Die Verknüpfung von Traum und Reaktion wirkt äußerst unlogisch. Doch immer mehr wird dafür deutlich, Romea und Julian, das ist keine Liebesgeschichte, sondern eine Obsession. Beide haben nichts gemeinsam, sind fast immer anderer Meinung. Dennoch ist Romeas Entwicklung zentral von der Idee gesteuert Julian nicht verlieren zu wollen. Sie wartet auf ihn, während er im Gefängnis sitzt, gibt ihm Geld, um Schulden abzuzahlen, konvertiert ihm zu Liebe und schickt ihm Geld ins Terroristencamp, obwohl er sie geschlagen hat und zum Mörder werden möchte.
Liebe
Schließlich muss Romea, wie auch die kleine Meerjungfrau, für ihre Liebe sterben. Nachdem sich Julian und Romea im Kaufhaus begegnen, wird ihnen klar, dass sie einander noch lieben und Julian gibt den Plan auf sich in die Luft zu sprengen. Beide umarmen einander. Doch dann taucht plötzlich die Polizei auf und reißt Romea von Julian weg. Dieser verliert das Gleichgewicht und fällt auf den Zünder. Es vergehen 10 Sekunden bis der Sprengsatz detoniert. In diesen kriecht Romea zurück zu Julian. Beide fassen einander an den Händen und gehen so gemeinsam in den Tod.
Alle Kapitel sind aus der ersten Person erzählt. Auffällig ist, dass die gewählte Erzählperspektive mit diesem Ende unmöglich wird. Wem erzählt Julian in den letzten Sekunden seines Lebens, von den letzten Sekunden seines Lebens? Er liegt auf dem Boden eines Kaufhauses und wird gleich tot sein. Die Szene ist jedoch auf mehreren Ebenen problematisch. Zum einen wirkt die Entscheidung, dass beide sterben müssen, obwohl Julian sich gegen den Anschlag entscheidet, völlig überinszeniert. Julian soll, so scheint es, als positiver Charakter aus dem Roman scheiden. Die Mühe ihn als Terrorist auf der Anklagebank zu sehen, mag sich der Roman nicht machen und wählt damit den wohl einfachsten Ausweg – ein (zweifelhaftes) doppeltes Happy End. Der Extremismus verliert und beide Hauptfiguren bekommen ein wahres Liebesgeschichtenende: Hand in Hand. Julian und Romea sterben, so wie ihre selbstgewählten Vorbilder Bonnie und Clyde und ihre intertextuellen Namenspaten Romeo und Julia. Ihr Tod bildet damit in der Logik der intertextuellen Verweise das Ende eines Abenteuers zweier Draufgänger und das Ende zweier Liebender. Statt diese Konstellation kritisch zu besprechen, wird die ungesunde Beziehung, in der sich Romea befindet, vom Roman über den gemeinsamen Tod zum Romantischen hin überhöht und als Liebe verkauft.
Ganze Menschen
Am Ende, als er Romea kurz in seinen Armen hält, erzählt Julian, dass er nun seine „Welt verlassen und ganz in Romeas Welt abtauchen will.“ (413) Die Welt der Nixe wird so als Gegenort zum Extremismus entworfen. Der Mensch will Meermann werden. Schaut man sich den Tod der kleinen Seejungfrau in Hans-Christian Andersens Märchen an, wird deutlich, dass die Weltsicht der Erzählung nicht ideal dafür geeignet ist. Im Märchen wählt die kleine Meerjungfrau den Tod, weil sie ihren Geliebten nicht töten möchte. Sie opfert sich, wird zu Schaum auf dem Meer und schließlich zu einem Luftgeist. Meerjungfrauen, in der Welt dieses Märchens, haben jedoch keine Seele und erst durch die Liebe eines Menschen können sie eine bekommen. Als Luftgeist bekommt die Seejungfrau dennoch die Chance sich eine unsterbliche Seele zu verdienen. Die Erzählung endet mit einer weinenden Nixe, die in „Gottes Sonne“ blickt und sich nun aufmacht sich den Eintritt in Gottes Reich zu erwerben.
Nun ist Romea im Roman eine symbolische Nixe und wird so zum Mangelwesen. ‘Halbmensch’ ist dabei im Roman nicht nur mit der Chiffre Meerjungfrau belegt. In einem Gespräch mit Shirin, einer Frau in der Salafistengemeinde, bekommt Romea erklärt: „Du musst Dich entscheiden. Entweder für den Glauben, dann musst du die Schahada sprechen. Aber wenn du sie sprichst, dann musst du auch ganz nach den Regeln hier leben. Und wenn du das nicht kannst, dann solltest du es besser lassen. Ein halber Mensch kann niemals glücklich sein.“ (221) Ein halber Mensch ist in dem Zusammenhang jemand, der sich nicht völlig und ganz für den Glauben entschieden hat. Es ist diese Nacht, in der Romea davon träumt, dass die Hexe ihr Beine gibt und nach der sie einwilligt zu konvertieren. Romeas Menschwerden ist damit eine Entwicklung hin zum strengen islamischen Glauben. Die gewählte intertextuelle Symbolik unterstreicht die ideologischen Lehren der Salafiyya-Gemeinde jedoch, indem sie ebenso ein Wertesystem schafft, in dem halbe Menschen / Seejungfrauen weniger wert sind, als Menschen. So kann ‘Romeas Welt’, die Welt der Meerjungfrauen eigentlich keine Zuflucht vor dem Extremismus sein. Der Roman bedient sich damit eines Intertextes, ohne diesen begriffen und sinnvoll für die eigenen Aussagen nutzen zu können.
Literatur
Kuschnarowa, Anna: Djihad Paradise. Beltz & Gelberg: 2013.