„Du bist, was du isst“ – kulturelle Dimensionen von Ernährung
Vom 18.-20.9.2014 hat die Forschungsstelle für Kulturökologie und Literaturdidaktik der Universität SIEGEN eine Tagung ausgerichtet, die den vielseitigen Themenkomplex von Ernährung in seinen kulturellen Dimensionen untersucht hat (für die Organisation zeichneten Elisabeth Hollerweger und Anna Stemmann verantwortlich). Frei nach dem Motto „Du bist, was du isst“ galt hier vor allem auch: „Du bist, was du liest“. Im Zentrum standen Vorträge, die sich mit der literarischen, medialen und künstlerischen Darstellung von Essen in diachroner und synchroner Perspektive auseinandersetzten; diese wurden über den literaturwissenschaftlichen Tellerrand hinaus ebenso von fachfremden Impulsen ergänzt und zeigten die komplexen Wechselwirkungen von Ernährungsdiskursen in einer interdisziplinären Sicht auf. Das facettenreiche Programm beinhaltete dabei sowohl dezidierte Mikroanalysen einzelner Texte, als auch überblicksartige Untersuchungen zu spezifischen Motiven oder kulturellen Konstanten in der Darstellung von Essen.
In ihrer Begrüßung stellte ELISABETH HOLLERWEGER das Konzept der Kulturökologie und dessen Relevanz für die Literaturwissenschaft vor, ebenso die Arbeit der Forschungsstelle, die diese Theorien auch in eine literaturdidaktische Anwendung bringt und in die Lehrerbildung integriert. Ausgehend von der Annahme, dass Natur kulturell bedingt ist und sich in der literarischen Darstellung entsprechende Wandel- und Umschlagsprozesse spiegeln, untersucht die kulturökologisch orientierte Literaturwissenschaft die Konstruktionen und Darstellungen von Natur in der Literatur (vgl. Goodbody 1998). Einen wichtigen Bestandteil im Kontext von Natur und Umwelt markiert dabei das Thema der Ernährung, das zunehmend in immer komplexere globale Strukturen eingebettet ist, so dass die Frage nach der kulturellen Dimension von Ernährung auch im literarisch-medial-künstlerischen Feld evident ist, bisher aber noch kaum erforscht wurde und nun erstmals in den Fokus rückt.
In ihrem Auftaktsvortrag widmete sich ANNA STEMMANN der populären Fernsehserie Die Simpsons, die sich zum Ausdrucksmedium und Speicher diverser virulenter gesellschaftlicher Prozesse entwickelt hat. In einer kulturökologischen Lesart zeigte sie das dichte Erzähl- und Diskursgefüge der Serie auf; darin werden vielschichtige Aspekte des Themas Ernährung verhandelt, Positionen kontrastiert und darüber konsequent satirisch und ironisch gebrochen verschiedene Diskurse in Spannung gebracht.
Im Spannungsfeld von Fakten und Fiktion bewegte sich auch NADJA TÜRKE. Sie untersuchte aktuelle Ratgeberliteratur, die Vegetarismus und Veganismus als hippe Lebenskonzepte vorführen. Sie zeigte auf, wie sich darin fiktionale Erzählstrategien zunehmend mit faktualen Inhalten verbinden und wies auf eine Analogie zum klassischen Bildungsroman hin, der im Kontext von ökologisch-bewusster (Bewusstseins-)Bildung eine Renaissance zu erleben scheint. SABINE PLANKA schloss mit ihrem Vortrag direkt an solche Mischformen des Erzählens an und stellte die historischen Ursprünge des Kinderkochbuchs vor, die bis in das 18. Jahrhundert reichen. Fundiert zeichnete sie dabei die Entwicklung und den Funktionswandel vom reinen Lehrbuch zum Hybridmedium nach, in dem zunehmend populäre Figuren der Kinderkultur auftreten, fiktionale Rahmenhandlungen etabliert werden und Bild-Text-Interdependenzen eine zentrale Rolle einnehmen.
Das zweite Panel fokussierte sich auf eine spezifische Genderperspektive, die die Inszenierung von weiblichen Identitäten in verschiedenen medialen Darstellungen untersuchte. Den Beginn machte TANJA RUDTKE, die eindrucksvoll zeigen konnte, wie die religiös-mythische Semantisierung von Nahrungsmitteln, der Zubereitung und spezifischen Räumen in verschiedenen Texten zum Einsatz kommt und diese zu mythischen Zeichen – im Sinne Roland Barthes – werden lässt und eng verschränkt ist mit dem Rollenverständnis der weiblichen Protagonisten.
JULIA WOEST widmete sich in ihrem Vortrag dem Reality-Format Germanys Next Topmodel und untersuchte den Konnex von scheinbar gesundem, aber eigentlich abgemagerten, Körper und Ernährung, den die Serie entwirft. Sie zeichnetet dabei das enge Verhältnis von performing Gender, den Blickstrukturen der Serie und der medialen Inszenierung der Nahrungsaufnahme nach und konnte dabei zwar einen deutlichen Wandel im Verlauf der Serie vom Beginn bis zur aktuellen Staffel ausmachen, die dennoch weiterhin ein fragwürdiges Bild vermittelt. KERSTIN BUESCHGES beschloss den ersten Tag mit einem Vortrag zur Performance Kunst von Bobby Baker und zeichnete das lustvolle Spiel mit Essen und den damit einhergehenden bewussten Regelbrüchen nach, wenn die Künstlerin diese Regeln in ihren Live-Performances dekonstruiert.
Ein ganzes Panel widmete sich am zweiten Tag der Kinder- und Jugendliteratur, wobei insbesondere der Aspekt der Pathologisierung von Ernährung einen zentralen Referenzrahmen bildete. IRIS SCHÄFER untersuchte zwei aktuelle jugendthematisierende Texte mit männlichen Protagonisten auf die Darstellung von Essstörung und Magersucht. Sie machte dabei sowohl auf spezifische Erzählstrategien, als auch auf eine überzeugende Verbindung zu Lacans Spiegelstadium aufmerksam. Denn die möglichen Störungen und Probleme im Zuge der Adoleszenz und Identitätsfindung schlagen sich hier auch in der scheiternden Nahrungsaufnahme nieder. DANIELA FRICKEL ergänzte den Themenkomplex der Magersucht und zeichnetet die Entwicklung des Themas in der KJL von den 1980er Jahren bis zu aktuellen Texten nach – dabei vor allem mit Blick auf weibliche Protagonisten. Sie konnte dabei zeigen, dass sich sowohl die Art und Weise des Erzählens – hin zu komplexen und offenen Formen –, als auch die damit einhergehende Öffnung zu vielschichtigen Facetten und Aspekten des Themas, verändert.
LAURA GEMSEMER beschloss das Panel und widmete sich der Darstellung des zeitgenössischen Vampirs in verschiedenen Jugendmedien und machte dabei einen konstanten Trend zur Veränderung des ursprünglichen Mythos aus, der sich auch in der Diätetik der Vampire zeigt und zu einem vermeintlichen Vegetarismus führt. Kenntnisreich schöpfte sie dabei aus dem breiten populärkulturellen Fundus der Vampirdarstellungen und wies insbesondere auf die fragwürdige Konstruktion und Verschränkung von leiblicher Askese und sexuellem Verzicht in Twilight hin.
Einen weiten Blick zurück auf spezifische historische Wurzeln des Themas Ernährung bot das anschließende Panel, das verschiedene Aspekte vom Mittelalter bis zur Neuzeit beleuchtete. So stellte NADINE HUFNAGEL die Formen und Funktionen in der Darstellung des gemeinsamen Mahls in der mittelalterlichen Epik vor. Diese Erkenntnisse bettet sie in einen Blick auf die daraus folgenden Epigonen – Nacherzählungen der Texte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, sowie aktuelle Sachbücher – ein und zeigte, wie und welches Bild vom Essen im Mittelalter medial vermittelt wird. ALEXANDRA KUSCH widmete sich der Frage des Anstands beim Essen und untersuchte die mittelalterliche Tugendlehre Der Welsche Gast auf die darin codierte interkulturelle Konstruktion von Alterität und eröffnete spannungsreiche Perspektiven für den literaturdidaktischen Einsatz im Deutschunterricht. MARTINA WERNLI rückte den „erzählten Braten“ in den Fokus ihres Vortrags und stellte die verschiedenen Formen des Schreibens über die Martinsgans im 16. und 17. Jahrhundert vor. So verschränken sich in der Gänsefigur nicht nur ökonomische und kulinarische Diskurse, sondern diese wird auch zur Folie für kulturelle Entwicklungen, insbesondere für das Verhältnis von Mensch und Tier.
Nach der kulinarischen Versorgung der Teilnehmer in der Mittagspause führte JOCHEN VOIGT das Programm fort und gab aus seiner Sichtweise als ökologisch anbauender Landwirt einen praxisorientierten Einblick auf die kulturelle Entwicklung und aktuelle Lage in der Ernährungsproduktion. Mit seinem Rekurs auf den stets gültigen Goethe – denn wie schon Mephisto forderte: „Fang an zu hacken und zu graben“ – konnte Voigt verdeutlichen, wie notwendig eine vielfältige und regionale Agrarkultur auch heute noch ist.
MIRIAM ZEH widmete sich in ihrem Vortrag wieder der literarischen Darstellung von Ernährung und untersuchte das Motiv des Supermarktes als zentrales Element in verschiedenen Texten der Gegenwartsliteratur. In der Topographie des Supermarktes wird dabei das Schlendern und Wayfairing zum bewussten Treibenlassen und überschreibt die Funktion als Nicht-Ort – im Verständnis von Marc Augé als nicht identitätsstiftend – hin zu einem identitätsstiftenden und hoch semantisiertem Raum, in dem die tieftraurige Tiefkühlpizza zum Spiegel individueller Erfahrungen wird. Die Bewegung im Raum, die interkulturelle Grenzüberschreitung und das Motiv des Mangels und Hungers untersuchte hingegen FREDERIKE FELCHT anhand der schwedischen Auswandererromane von Vilhelm Moberg und zeigte, wie darin Diskurse des Nationalverständnisses verhandelt werden und immer eng an das Konzept des bäuerlichen Nahrungsanbaus gekoppelt sind.
ALESSANDRA DE ROSA widmete sich dem Aspekt von Ironie und Realismus in der Darstellung von Nahrungsmitteln am Beispiel des Cunto de li cunti von Giambattista Basile, die konsequent die Leiblichkeit des Essens mit Sexualität verschränken; diese Erzählung hat vor allem in der deutschen Übersetzung eine enorme Verzerrung respektive Glättung im Hinblick auf diese anzüglichen Anspielungen erfahren, wie de Rosa an amüsanten Beispielen belegen konnte. Der Tag wurde mit ADRIAN ROBANUS’ Vortrag beschlossen, der Ernährung als einen kulturellen Zeichenträger der Aufklärung am Beispiel von Émile und Robinson Krusoe gelesen hat und mit der Darstellung in Goethes Wahlverwandtschaften kontrastierte.
Der dritte und letzte Tag wurde mit einem weiteren fachfremden Impuls eingeleitet, in dem HEINZ HOLLERWEGER die historische Entwicklung der Verpflegungskultur in europäischen Unternehmen nachzeichnete und deren soziale Funktion und Relevanz für ein gesundes Betriebsklima entfaltete. ANDREAS HEIMANN widmete sich hingegen einer tabuisierten Form des Essens – dem Kannibalismus – und fragte nach dem dahinter stehenden Exzess, sowie der damit verbundenen Sexualisierung. Einen weiteren interdisziplinären Blick bot SUSANNE WOHLFAHRT mit einer umweltmedizinischen Reflexion zu spezifischen Entwicklungen in der Ernährung, die sie mit Beispielen aus der Kunst unterfütterte.
GALA REBANE untersuchte Elsa Triolets Rosen auf Kredit auf die Darstellung des weiblichen Körpers und machte auf die kultursymbolische Polyvalenz des Essens aufmerksam, in der Nahrung sowohl als Instrument von gesellschaftlicher Normierungen, als auch als ein Mittel im Kampf um die weibliche Emanzipation eingesetzt wird. Den Abschluss der Tagung bildetet BEATRICE WAEGNER, die unter der Leitfrage „Schuld is(s)t Blutwurst?“ Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene einer konzisen Mikroanalyse unterzog und die Pathologisierung, sowie die Verschränkung von verschiedenen Schulddiskursen im Essverhalten der Protagonisten zeigte.
Die Tagung bot somit ein reichhaltiges Panorama von verschiedenen literarisch-kulinarischen Motiven, kulturellen Konstruktion, historischen Wurzeln und Entwicklungen, aber auch aktuell drängenden Problemstellungen auf und machte deutlich, dass der Frage nach einer narrativen Darstellung von Ernährung und den damit verbundenen Funktionen, gesellschaftlichen Einschreibungen und codierten Diskursen weitere Untersuchungen folgen sollten. Dies zeigte sich vor allem in der regen Diskussionsbereitschaft der Teilnehmer, die durch konstruktive und positive Stimmung geprägt war, und immer wieder zu der Frage zurückkehrte: „Wo ist das Fleisch? Und wo sind eigentlich die Männer?“
Medien
Goodbody, Axel: Literatur und Ökologie: Zur Einführung. In: Axel Goodbody (Hrsg.): Literatur und Ökologie. Rodopi: 1998, 11–40.
Fotos: Susann Vogel, Anna Stemmann (c)