Seit 15 Jahren gibt es im Theater Hagen die Kinder- und Jugendsparte Lutz. Unter der Leitung von Werner Hahn wurden und werden dort seit 2001 immer wieder ambitionierte und sehenswerte Projekte realisiert, die das Lutz als festen Bestandteil im Kulturprogramm Hagens etabliert haben. Dieses Jubiläum wird nun im März mit einem kleinen Festprogramm unter dem Motto #lutz15 gefeiert und bringt gleich mehrere Uraufführungen auf die Bühne: am 4. und 6.3.2016 etwa der von Finn-Ole Heinrich geschriebene Monolog Ein Helm.
Bustour durch Hagen. Gullylogie 101.
Bereits der Spielort macht klar, dass Ein Helm kein gewöhnliches Theaterstück ist, denn wir warten vor dem Theater an der eigens errichteten Bushaltestelle, bis tatsächlich ein Linienbus vorfährt und die rund 30 Zuschauer an Bord gehen lässt: man ist als Zuschauer jederzeit mittendrin und selber Teil der mobilen Bühne. In diesem geschlossenen und doch beweglichen Raum entsteht gleich zu Beginn eine intime Nähe zum Hauptdarsteller. Dieser ist für die nächsten 75 Minuten Kartenkontrolleuer, Protagonist und Führer durch die wortwörtlichen Höhen und Tiefen Hagens. Thilo Stolze-Stadermann ist ehrenamtliches Mitglied des Kulturvereins ‚Gullylogie e.V.‘, sein Spezialgebiet sind die gusseiserenen Schachtabdeckungen – gemeinhin als Gullydeckel bekannt – und verschiedenste Formen von Abflussgittern. Außerdem ist er Kenner des unterirdischen Kanalsystems der Stadt und nimmt seine Fahrgäste mit auf eine Rundreise durch Hagen. Dort weist er auf die Hotspots der Kanalgeschichte hin, führt kenntnisreich und mit viel Verve ein in die Felder der Gullylogie und zeigt, wie sich ein Ablaufgitter von einem Gullydeckel unterscheidet.
Ein Helm
Der junge Mann erzählt aber nicht nur aus seinem breiten Wissensfundus über die Hagener Unterwelt, immer wieder hält er inne und schweift vom eigentlichen Thema ab, wenn es darum geht, warum er einen Schutzhelm trägt. Dieser ist fest gesichert, mit mehreren Eisenketten und Schlössern auf seinem Kopf befestigt und sein Begleiter, seit er ein kleiner Junge war. So werden konsequent zwei Erzählebenen parallel geführt und durchkreuzen sich immer wieder: die Fakten über die Abwasserkanäle der Stadt und die persönlichen Reflexionen über Thilos Erfahrungen und die Folgen eines Alltags mit Helm. Was andeutungsweise bereit zu Beginn mitschwingt, entfaltet sich sukzessive im weiteren Verlauf: Thilos Leben hat im Kindesalter eine schwere Erschütterung erfahren und diesem Bruch versucht er mit seinem Helm entgegenzuwirken. Der Helm wird als Metapher für die kindliche Unsicherheit im Zuge des Verlust des Vaters lesbar. Denn wie sich nach und nach aufblättert, will er diesen Helm erst wieder abnehmen, wenn sein Vater wieder da ist. Die Flucht in die Schutzzone des Helms spiegelt die Sehnsucht danach, dass wieder alles in üblichen Bahnen verläuft. Dass aber eben dieser Zustand nicht wiederhergestellt werden kann und Thilos persönlicher Schutz- und Rückzugsraum ihn vor den Kanten des Lebens nur bedingt schützen kann, zeigt das Stück auch. Er berichtet von seinen Erfahrungen als Heranwachsender, der mit dem Helm beständig von der Norm abweicht. Klug leuchten diese Passagen des Monologs das Verhältnis von Norm und Differenz aus: „Sie tun so, als wäre ich gemeingefährlich, dabei hab‘ ich einfach nur einen Helm auf dem Kopf. […] Ich bin ganz normal, sogar gut erzogen, ich weiß, was sich gehört und biete alten Leuten in der Bahn meinen Sitzplatz an…Das Einzige ist: Ich trage einen Helm. Aber das kann allen anderen doch total egal sein.“ (Flyer, Ein Helm) Denn das dieser Umstand allen anderen natürlich nicht egal ist und Thilo immer wieder gegen diese Widerstände angehen muss, offenbaren seine Innensichten sehr eindringlich und zeigen, was einer Person widerfährt, die nicht ganz in das gesellschaftliche Schema hineinpasst. So findet Thilo weder eine Frau, noch einen festen Arbeitsplatz.
Gebrochen werden die selbstreflexiven Passagen dann immer wieder durch erneute Einschübe, die die kanaltechnischen Besonderheiten Hagens ausmalen, sodass diese beiden Ebene im permanenten Wechsel stehen und ein anrührendes Spiel aus Komik und Emotionalität entstehen lassen. Dieser ambivalente und changierende Eindruck verstärkt sich nicht nur durch das bisweilen skurrile Ausgangsthema, sondern auch über den Handlungs- und Spielort des Busses: Passanten, die zufällig vorbeilaufen, stehenbleiben oder winken, verschränken sich mit den Ereignissen im Bus und sorgen für ungeplante, aber großartig funktionierende Komik. Der Hauptdarsteller Marc Baron weiß die Besonderheiten dieses Settings bestens auszuspielen und liefert einen hervorragende Darstellung ab, die aber nicht nur in der Komik, sondern vor allem den traurigen Schichten der Figur zu überzeugen weiß. Thilo ist eine zerrissene Figur, die beständig am Abgrund ihrer inneren Brüche wankt.
In der Hagener Unterwelt
Das Geschehen findet aber nicht nur im Bus statt, sondern die Zuschauer dürfen dann auf der Hälfte der Strecke tatsächlich selber die Hagener Unterwelt erkunden und sich tapfer auf die Heldenreise in die Abwassertiefen machen: nach einer kurzen Einweisung über die Sicherheitsbedingungen, ausgestattet mit Atemrettungsschutz und Handschuhen darf – wer sich traut – jeder Zuschauer den Abstieg wagen. Dieses Element erweitert den Ausflug um ein weiteres Event, bricht aber auch die eindringliche Stimmung des geschlossenen Raumes im Bus auf. Die Nähe, die zuvor zur Hauptfigur aufgebaut wurde, bleibt zwar, man wird aber trotzdem wieder herausgerissen, was ein wenig schade für die Wirkung der intimen Schauspielsituation ist. Dass sich dieser Abstieg in die Unterwelt aber nicht nur als bloße Spielerei und ein Effektmoment erweist, sondern auf symbolischer Ebene auf die Untiefen des Verdrängens von Thilos Seele verweist, macht daran dann doch den besonderen Reiz aus. Dass der Protagonist an der letzten Station vermeintlich seinen Vater in der Ferne sieht und überstürzt den Bus verlässt, spannt den klugen dramaturgischen Bogen weiter fort und belässt ein nachdenklich stimmendes offenes Ende.
Die Inszenierung von Ein Helm ist ungewöhnlich und vor allem ungewöhnlich gute Unterhaltung, die den konsequenten Drahtseilakt zwischen Komik und Dramatik meistert. Das Psychogramm der Hauptfigur, verstärkt durch die Kammerspielatmosphäre in dem Bus, kreiert eindringliche Einsichten in das Innenleben, die immer wieder mit der äußeren Topographie der Stadt korrelieren und die parallelen Erzählebenen in Beziehung treten lässt. Unverkennbar zeigt sich in der Textgestaltung die Handschrift Finn-Ole Heinrichs, der ein feines Gespür für die zwischenmenschlichen Eigenheiten und den Facettenreichtum seiner Figuren erweist. Auch wenn das Helm-Motiv deutlich an Oskar aus Andreas Steinhöfels Rico und Oskar Trilogie angelehnt ist, gestaltet der Monolog Ein Helm die individuellen Entwicklungsdimensionen der Figur im Zusammenspiel mit den Eigenheiten der Stadt Hagen aus und weiß diese zu einem gelungenen gemeinsamen Erzählen zu verbinden.
Im April wird “Ein Helm” übrigens am 14., 15. und 19. gespielt, jeweils um 18 Uhr.