Flügel aus Papier
Marcin Szczygielskis Flügel aus Papier spielt im von Deutschland besetzten Warschau des Jahres 1942 und verfolgt die Geschichte von Rafał, einem achtjährigen Jungen, der mit seinem Großvater im Judenghetto der Stadt lebt. Er hat kaum noch Erinnerungen an seine Eltern, von denen er nur weiß, dass sie nach Afrika geflüchtet sind und die restliche Familie eigentlich nachholen wollten, nun aber durch die Nazibesatzung der Kontakt vollständig abgerissen ist. Rafałs Großvater ist bemüht, seinem Enkel ein unter den Umständen möglichst normales Leben zu bieten, mit seinem Geigenspiel verdient er Geld und sorgt so für etwas Essen und den Zugang zur Bibliothek. Letzteren nutzt Rafał ausgiebig und ist ein lernhungriger und begieriger Leser. Als sein Großvater allerdings davon erfährt, dass die Juden nun aus dem Ghetto deportiert werden sollen, setzt er alles auf eine Karte und erkauft seinem Enkel eine Fluchtmöglichkeit hinter die Mauern des Bezirks. Für Rafał beginnt damit eine ungewisse und gefährliche Reise.
Das Leben im Ghetto
Der Roman lässt sich zu Beginn viel Zeit, sein Setting zu beschreiben und entwickelt gerade darin seine große Stärke. Ein knappes Drittel verwendet der Text auf eine detaillierte und glaubhaft erzählte Milieu-Studie des Warschauer Ghettos, von Rafał meist als ‚Bezirk‘ bezeichnet. Verfügt man nicht über das geschichtliche Vorwissen, entgeht einem vielleicht, dass hier das Leben einer jüdischen Gemeinde in deutscher Gefangenschaft beschrieben wird. So entsteht etwa gleich zu Beginn der Eindruck einer lebendigen Großstadt, als Rafał sein Viertel beschreibt:
„Da sind der Kosmetiksalon und das Labor von Adam Duchowiczny, in dem er Cremes und andere Schönheitsmittel herstellt. Es riecht da immer sehr stark, aber man weiß vorher nie, ob es diesmal riecht oder stinkt, das reinste Lotteriespiel, sagt Großvater. […] Vor der Brücke laufe ich wieder langsamer, weil es hier spannende Sachen zu sehen gibt. Viele kleine Läden, ein Kleiderbasar und manchmal verkaufen sie hier sogar Blumen. Ich springe schnell die hölzernen Stufen hinauf, überquere schnell die Brücke, weil man da nicht anhalten darf und immer ein furchtbares Gedränge ist.“ (S. 9-10)
Szczygielski taucht mit seiner Erzählung tief in den Alltag des Ghettos ein, er beschreibt zu Beginn weniger die große Not und das Leid, als vielmehr den Versuch, sein Leben weiterzuführen und eine Normalität zu konstruieren, die aus historischer Sicht nur schwer vorstellbar ist.
Die besondere Situation dringt allerdings immer mehr in den Vordergrund der Handlung. Aus der Ferne beobachtet Rafał eine gewaltsame Kontrolle von deutschen Soldaten (S. 38) und wird daraufhin von einer ihm bekannten Bibliothekarin von der Straße gebracht. Rafał sieht dabei offensichtlich so unterernährt aus, dass sie ihn in eine Armenküche bringt und ihm eine Suppe spendiert (S. 40). Als sein Großvater von den Ereignissen erfährt, verbietet er seinem Enkel, alleine in die Bibliothek zu gehen, weil es zu gefährlich. Die Auswegslosigkeit der Situation sickert im Laufe der Handlung weiter in das Bewusstsein des jungen Rafałs und damit auch in das Bewusstsein der Leser. Immer öfter werden die Mauern beschrieben, die das Viertel fest umschließen, immer offensichtlicher werden die Zeichen von Armut, Leid, Gewalt und Enge. Erst ziehen er und sein Großvater in eine neue Wohnung um, da das Ghetto noch einmal verkleinert wird. Schließlich kommt der Moment, wo Rafał ohne seinen Großvater fliehen muss. Dies fällt ihm sehr schwer, er versteht nicht genau, wieso er mit fremden Leuten mitgehen muss: „Es soll dort nicht so gefährlich sein, es gibt etwas zu essen und keine Bettler auf der Straße. Hinter der Mauer gibt es mehr Platz. Aber hinter der Mauer gibt es keinen Großvater. Was soll denn aus ihm werden? Wer wird für ihn kochen und putzen?“ (S. 73).
Das Leben im Jahr 2013?
Die Flucht verläuft über viele Gefahren und Hindernisse, die an dieser Stelle nicht verraten werden sollen. Nach zahlreichen Wendungen landet Rafał schließlich im verlassenen Warschauer Zoo, wo sich auch andere Flüchtlinge in der relativen Sicherheit der verlassenen Gehege verstecken. Er hat wenig, was ihm Trost spendet, er ist allein und krank, sein einziger Gegenstand von Wert ist H. G. Wells Roman Die Zeitmaschine. Diesen hat er bereits zweimal gelesen, es ist sein Lieblingsbuch. So ist es vielleicht auch zu erklären, dass Rafał in seinem einsetzenden Fieber in eine Art Koma fällt und in einem traumartigen Zustand eine Zeitmaschine im Stile Wells findet, welche er auch gleich benutzt, um in das Jahr 2013 zu reisen. Dort, im wieder in Betrieb genommenen Warschauer Zoo, durchlebt er einige verwirrende Momente mit der ihm völlig unbekannten Gegenwartskultur, isst Hot Dogs und trinkt Cola, wundert sich über iPods und regt sich über eine Gruppe von Jungs auf, die mit einem weggeworfenen Stück Brot Fussball spielen.
So gut Szczygielskis beobachtender Erzählansatz zu Beginn des Romans funktioniert, so störend und unnatürlich wirkt er, wenn sein Protagonist in eine für ihn unbekannte Zukunft versetzt wird. Es wird versucht, die Welt durch die Augen Rafałs zu sehen und zu erklären, weshalb in seiner Interpretation alle halb nackt herumlaufen (in kurzen Sommerklamotten), Pommes zu goldenen Stäbchen werden und Rapmusik für ihn klingt, als würden die Deutschen hunderte Gewehre abfeuern. Die kurze Passage wirkt im Fluss der Erzählung befremdlich und scheint auf den ersten Blick auch keinen größeren Bezug zur restlichen Handlung zu haben. Rafał gerät schließlich vor ein Auto und wird angefahren, verliert das Bewusstsein und erwacht im Zoo des Jahres 1942. Er tut seine Erfahrung als Fiebertraum ab, beeinflusst durch seine Lektüre der Zeitmaschine. Tatsächlich fragt man sich auch als Leser, welche Funktion der Einschub haben soll, da er danach nur noch selten Erwähnung findet und auch Rafał sich nur noch an kurze Traumfetzen zu erinnern scheint. Nach dieser Episode wechselt die Erzählung wieder in eine viel natürlichere und glaubhafter wirkende Beschreibung vom Leben der Flüchtlinge im Zoo und der damit zusammenhängenden Herausforderungen.
Vom Leben berichten
Erst im Finale des Romans wird klar, wie die beiden eben beschriebenen Teile der Handlung miteinander verbunden sind. Da unsere Rezensionen keine Enden und überraschenden Wendungen verraten sollen, wird an dieser Stelle nicht erklärt, wie alles zusammen kommt. Es sei nur gesagt, dass sich auch zum Ende hin kein wirklich natürliches Verständnis für die verschiedenen Handlungsebenen einstellen will. In einer ausgesprochen reflexiven Passage scheint die Erzählung zum Schluss auf ihren eigenen Zweck zurückzublicken:
„Deshalb muss man sich erinnern. Die Erinnerung ermöglicht es uns, bereits begangene Fehler nicht noch einmal zu machen und fortzuführen, was gelungen war. […] Kinder und Erwachsene werden sich noch jahrelang nicht erinnern wollen, dass auf der Welt so furchtbare Dinge geschehen sind wie in deiner Zeit, weil diese Erinnerung so schmerzhaft ist. Aber nur die Erinnerung und das Wissen darum machen es ihnen möglich, eine bessere und glücklichere Zukunft zu gestalten.“ (S. 269).
Eine Erinnerungs- und Wissenskultur aufzubauen, kann als Programmatik des Romans gesehen werden. Zum einen wird eine glaubhafte Schilderung eines lange vergangenen Alltags entwickelt, zum anderen wird die historische Situation im Warschau des Jahres 1942 anhand mehrerer Einzelschicksale aufgearbeitet. Das Mittel der Zeitreise wird dabei als verstärkender Effekt eingesetzt: Da Rafał in der Zukunft als nichts verstehender Beobachter inszeniert wird, kann der Leser begreifen, dass seine Situation in Bezug auf die Vergangenheit ganz ähnlich ist. Der Bericht aus der Vergangenheit gewinnt durch dieses Wechselverhältnis an Wichtigkeit, es wird vermittelt, dass künftige Generationen auf keinen Fall eine solche Verständnislücke entwickeln dürfen, wie Rafał sie in Bezug auf die Zukunft notwendigerweise haben muss. Dass im Nachwort erklärt wird, dass die Geschichte von Flügel aus Papier teilweise auf realen Begebenheiten beruht, unterstützt diesen Eindruck noch einmal. Den sich selbst gesetzten Zweck erfüllt der Roman durch seine gut funktionierende Beschreibung der Vergangenheit allemal. Nur den bemüht wirkenden Griff der Zeitreise hätte es dazu vielleicht auch gar nicht gebraucht.
Literatur
Szczygielski, Marcin: Flügel aus Papier. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Fischer Sauerländer: Frankfurt 2015.