
Ella und Max, die beiden Protagonisten aus Monika Dietrich-Lüders erstem Roman Ella und Max… Auf der Spur des Voodoo-Zaubers, stehen auch im neuen Band der Autorin im Fokus. Dieses Mal verschlägt es die beiden Freunde auf eine Ferienfreizeit, wo sie hören, dass es bei einem Volksfest einen Überfall auf eine junge Frau gegeben hat. Der Täter ist für die Bevölkerung schnell ausgemacht: der seltsame, weil immerzu schweigende Jakob ist für sie der Schuldige, der zudem im Zeitraum nach der Tat geflohen und seitdem verschwunden ist. Nur die Köchin im Ferienheim ist anderer Ansicht und nicht von der Schuld Jakobs überzeugt. Nachdem Ella und Max sich für das Verbrechen interessieren, erzählt sie ihnen von Jakobs Schicksal: Als er ein kleiner Junge war, hatten er und seine Mutter einen Unfall, bei dem seine Mutter starb. Seitdem redet er nicht mehr und wird von der Bevölkerung als seltsam eingestuft.
Vorurteile, ein wilder Mob und eine Spirale aus Gewalt
Als scheinbar ein zweites Verbrechen geschieht – Maja, die Tochter des örtlichen Arztes Dr. Lechner, ist verschwunden –, wird Jakob auch hier für schuldig befunden. Das Resultat ist schlussendlich eine Hetzjagd auf Jakob, die angestachelt wurde durch Dr. Lechner selbst, dessen Rolle zunehmend undurchsichtiger wird, bis ausgerechnet Maja für Aufklärung sorgt und sich Ella und Max anvertraut: Ihr Vater habe ihre Mutter und sie misshandelt, so dass sie geflohen und sich vor dem Vater versteckt habe. So gelingt es schließlich Ella und Max aufzudecken, dass Lechner nicht nur die junge Frau angegriffen und verletzt, sondern auch für den Unfall verantwortlich ist, der Jakobs Mutter das Leben gekostet hat.
In einem zweiten Handlungsstrang wird Dennis in den Fokus gerückt, der zusammen mit Ella und Max seine Ferien in dem Ferienheim verbringt. Als unangenehmer, weil vorlauter und aufsässig frecher Zeitgenosse gerät er erst mit Ella und schließlich Max aneinander. Schließlich sorgt Dietrich-Lüders aber auch hier für eine Überraschung: Durch einen Brief an Dennis, den Max findet und liest, stellt sich heraus, dass Dennis Mutter im Krankenhaus liegt und eine Genesung zunächst nicht absehbar ist, so dass Dennis länger als vermutet im Ferienheim bleiben muss. Am Ende kommt die erlösende Nachricht vom Vater, dass sich die Mutter auf dem Weg der Besserung befindet.
Vorurteile, häusliche Gewalt und Familie als zentrale Themen
In ihrer multiperspektivisch erzählten Geschichte greift Dietrich-Lüders mit dem gewählten Element der Vorurteile ein weit verbreitetes Thema auf, dass nicht selten auch mit Mobbing und der daraus resultierenden Gewalt verknüpft wird. Dass im Rahmen dieser Erzählung auch Ella und Max nicht frei von Vorurteilen sind, zeigt beispielsweise Ellas Reaktion auf den Heimleiter Herrn Hopfner, der die Ferienkinder mit strengen Regeln konfrontiert, sich jedoch am Ende als Helfer in der Not entpuppt und ihnen bei der Aufklärung der Verbrechen zur Seite steht und die Kinder unterstützt. Somit zeigen die Figuren – sowohl in Haupt- als auch Nebenrollen – vor dem Hintergrund der gewählten Thematik eine tiefer gehende Ausdifferenzierung und bieten sich als Identifikationsfiguren für Leserinnen und Leser an.
Thematisch greift Dierich-Lüders neben dem Moment der Vorurteile das Thema der häuslichen Gewalt auf und zeigt, wie unterschiedlich der Umgang damit ausfallen kann – und auch, dass Kinder nicht nur darunter leiden, sondern auch damit überfordert sind. So können Ella und Max nicht verstehen, dass Maja nicht wieder nach Hause, sondern stattdessen fliehen will. Gleichzeitig wird bis zu einem gewissen Grad die Sprachlosigkeit der Kinder thematisiert, die sich nicht nur in Angst und Panik äußert, sondern sich vor allem darin manifestiert, sich (zunächst) niemandem anvertrauen zu wollen bzw. zu können, sich aber auch darin zeigt, dass eine große Erleichterung empfunden wird, als eine Aussprache möglich ist. Gerade diese emotionalen Momente sind es, die die Handlung beleben und die Sorgen, Ängste und Nöte der Protagonisten glaubhaft vermitteln.
In Anbindung an diese Thematik verdeutlicht Dietrich-Lüders die Bedeutung von Familie und von Freunden, denen man sich anvertrauen kann und die als Stütze wirken können. Am Kontrast zwischen Dennis und Ella / Max wird dies besonders deutlich: Während Ella und Max zusammenhalten und gemeinsam das Verbrechen aufklären können, ist mit Dennis ein Alleingänger etabliert, der sich mit niemandem anfreunden kann und alle anderen Menschen von sich stößt
Das Spiel mit Spiegelungen und Dualismen
Auffällig sind dementsprechend die Dualismen, derer es zahlreiche in Form von Kontrastierungen und Spiegelungen gibt, die Dietrich-Lüders in ihrem Roman aufgreift. Den Vorurteilen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen der Dorfbewohner stellt Dietrich-Lüders das Motiv des Vertrauens gegenüber, das sich auch im ersten Buch um Max und Ella als bedeutend erwiesen hat. Erst der Umstand, sich anderen zu öffnen und anzuvertrauen schafft die Grundlage, die Verbrechen aufzuklären und einen Unschuldigen vor dem Mob zu bewahren, der scheinbar Selbstjustiz ausüben möchte. Auch hinsichtlich der Figurenkonzeptionen lassen sich – wie gesehen – Spiegelungen finden: So entspricht Dennis in seinem Geltungsbedürfnis der Mitarbeiterin Bärbel im Ferienheim. Beide suchen ihren Nutzen aus der Gesamtsituation zu ziehen, schätzen jedoch die Sachlage vollkommen falsch ein. Dem strengen Herrn Hopfner, der die Kinder mit Regeln konfrontiert, sich jedoch als wahrer Ansprechpartner entpuppt, der die Nöte der Kinder ernst nimmt, wird mit dem Betreuer Jens ein Mensch gegenübergestellt, der zwar cool wirkt, jedoch nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, sondern die Kinder mehr oder weniger sich selbst überlässt.
Fazit
Insgesamt ist Dietrich-Lüders ein Roman gelungen, der sowohl auf der Ebene der Narration als auch auf der Ebene der Figurenkonzeption überzeugt und Leserinnen und Leser in ihren Bann zu ziehen vermag. Im Rahmen der Narration greift sie erneut Themen auf, die bereits in ihrem ersten Buch von Relevanz waren: Vertrauen bzw. sich anvertrauen können und Familie und Freunde als wichtige Komponenten im Leben. All dies bettet sie ein in ein neues Setting, wobei es ihr gelingt, keinen Abklatsch ihres ersten Buches zu schaffen, sondern eine neue wunderbare Geschichte entwickelt, die sich problemlos ohne Kenntnisse des ersten Bandes lesen und verstehen lässt.
Literatur
Monika Dietrich-Lüders: Ella und Max … und die singenden Schmetterlinge. Bremen: Sujet-Verlag 2019.