Ey hör mal!

„Ey hör mal!“  – der Titel des Adoleszenzromans von Gulraiz Sharif spielt darauf an, was man als Leser_in dringend tun sollte: sich auf die Stimme des 15-jährigen Protagonisten Mahmoud einlassen und ihm zuhören. Aus der Ich-Perspektive nimmt er die Leser_innen mit in seine letzten Sommerferien vor seinem Wechsel auf die weiterführende Schule. Das, was er in seinem Plattenbau-Viertel am östlichen Rand von Oslo sieht und erlebt, packt er in seine eigenen Worte, und um es mit diesen zu sagen: er scheißt dabei auf jegliche literarische oder grammatikalische Konventionen. Wer sich davon nicht beirren lässt, wird mit einer ordentlichen Portion Humor belohnt:

Und dann legt Mama plötzlich mit Papas Magen- und Arschproblemen los, alle Nachbarn auf den Bänken vorm Haus und auf den Balkonen beim Wäscheaufhängen hören zu. Jetzt kommen sie alle zusammen, auf gebrochenem Norwegisch, Urdu oder Punjabi Alter-Weiber-Weisheiten aus ihrer Heimat hochzuplärren. Wie bei so ‘nem UN-Meeting, Alter, aber es geh nicht um Hunger, Not und Klimawandel, sondern ums Arschloch meines Vaters! […] Der Arsch meines Vaters kostet mich alle Selbstachtung, die ich mir in fast sechzehn langen Jahren im Viertel aufgebaut habe.

S. 15-16

Jugend in der Krise

Der Roman ist in seinem ganz eigenen Stil verfasst und spielt mit wiederkehrenden Satzstrukturen, die wie ein Running Gag für noch mehr Humor sorgen. Doch bei allem Witz thematisiert der Roman auch viele Herausforderungen, denen Mahmood in seinem Leben als Sohn von Eltern, die als Arbeiter_innen aus Pakistan nach Norwegen eingewandert sind, begegnen muss: sozialer Ausschluss, Rassismus, überarbeitete Eltern, toxische Männlichkeit, Armut und Gewalt in einem benachteiligten Stadtteil. Und wie es das Genre des Adoleszenzromans verlangt, wird seine trotz allem sommerlich leichte Jugend durch eine Krise erschüttert: Ali, sein 5 Jahre jüngeres Geschwister formuliert das Gefühl aus, das der Körper nicht zum eigentlichen Geschlecht passt.

Mahmouds Familie in der Krise

Das stellt die Welt von Mahmouds Familie völlig auf den Kopf. Doch auch wenn das Familienverhältnis dadurch völlig aufgestört und der Vater an die Grenzen seines Männlichkeitsbilds getrieben wird, fällt der Text aus der Reihe von aktuellen Adoleszenzromanen, die auf der Handlungsebene dysfunktionale Familienstrukturen erzählen. Die KJL-Forschung konnte herausarbeiten, dass häufig in den Erzählungen der Adoleszenz die Eltern physisch und psychisch abwesend sind oder aber sie ihre Funktion der Halt gebenden Autorität für ein freundschaftliches Verhältnis mit ihren Kindern eintauschen. Zwar scheint der Vater aus Überforderung zunächst Ali völlig zu ignorieren, doch gibt es zum einen durch die Figur der Mutter ein Elternteil, das zu ihrem Kind steht und sich für dieses einsetzt: „Mama ist jetzt im Tigermama-Modus!“ (S. 156) Zum anderen kann der Konflikt gelöst werden. Der Text liest sich so in seiner Gesamtheit wie eine Ode auf den familiären Zusammenhalt und ist ein Appell für das Austragen von Konflikten. Es wird zwar von einer familiären Krise erzählt, aber diese Erzählung berichtet auch von der Überwindung dieser, für die die Unterstützung und der Halt der Eltern notwendig ist.

Klassische Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit

Auch wenn der Transformationsprozess von Ali mit viel Zärtlichkeit erzählt wird, lohnt es sich einen kritischen Blick auf die Inszenierung von Männlichkeit und Weiblichkeit zu werfen. Mahmoud scheint es, nachdem sich Ali geoutet hat, ganz klar und logisch, dass der Jungenkörper schon immer falsch gewesen sein muss, da Ali sich ja schon immer für die Farbe Rosa, für Videos von süßen Tieren oder von Schminktutorials, für Schmuck, für „romantische Songs aus Disney-Filmen“ (S. 110) und für „dieses süße türkische Gebäck, das ist sooo ’n  Weiberkram“ (S. 111) interessiert hat. Am Ende zeigt auch der Onkel aus Pakistan, der die Familie für zwei Monate besucht, sein Verständnis mit Alis Entscheidung das Mädchensein auszuleben:

Als Ali den Onkel umarmen will, beugt er sich in aller Ruhe runter, grei0f nach seinem Koffer, zieht ‘ne Elsa-Puppe raus und gibt sie Ali. Und dann hör ich ihn sagen: ‚Du musst nicht mit Ben 10, ‘ner Plastik-AK47 oder ‚ner Beretta-Schrotflinte spielen, wenn du nicht willst!‘

S. 199

Impliziert wird durch die Reflexionen von Mahmoud und der Aussage und Handlung vom Onkel, dass es klar zu differenzierende Verhaltensweisen und Interessen für die zwei biologischen Geschlechter männlich und weiblich gäbe. Das von der männlichen Norm abweichende Verhalten von Ali wird erst akzeptiert und soll nicht mehr sanktioniert werden, nachdem Ali sich geoutet hat. Denn somit entspricht es wieder der gesellschaftlichen Vorstellung, wie Mädchen und Jungen sich zu verhalten und zu kleiden haben. Auf dieser inhaltlichen Ebene lässt der Text leider keine Möglichkeit eines diversen Auslebens von Gender zu.

Literatur

Sharif, Gulraiz: Ey hör mal! Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels. Zürich: Atrium Verlag 2022.

Kommentare sind geschlossen.