Fantasy trifft auf Psychoanalyse

Magoria. Das Haus der Schatten

Richter-Peills Jugendroman, der eine Collage psychoanalytischer Modelle beinhaltet und daher beispielsweise als eine Fantasy-Version C. G. Jungs Archetyp des Schatten gelesen werden kann, beginnt wie ein herkömmlicher Jugendroman: Die 17jährige Maja wird von einer angsteinflößenden Schattenfrau verfolgt, die sich immer in Momenten, in denen sich Maja in ihrer Haut nicht wohl fühlt und sich wünscht, eine andere zu sein, zeigt. Als sie schon befürchtet, wahnsinnig zu werden, wird sie von  einer Aushilfslehrerin, die sich als Schattenjäger-Scout entpuppt, in das Geheimnis der Schatten eingeweiht: Nur bestimmten, sehr willensstarken Menschen sei es vorbehalten, die Schatten zu sehen, die den Menschen ihre Lebensenergie entziehen. „Meist werden die Menschen mit Beginn der Pubertät von einem Schatten befallen.“ (S. 39) Es scheint daher naheliegend, die Schatten als Figuration adoleszenter Depression, die an späterer Stelle explizit angesprochen wird, zu deuten. Doch pathologische Markierungen finden sich noch an anderer Stelle, was im Folgenden noch näher ausgeführt wird.
Mit der Ernennung Majas als Auserwählte, die mehr sehen kann, als Andere und daher auf dem Gut Magoria zur Schattenjägerin ausgebildet werden soll, eröffnet sich jedoch ein Widerspruch, der die Protagonistin skeptisch werden lässt: Die Tatsache, dass sie selbst von einem Schatten verfolgt wird, wäre als Zeichen übermäßiger Schwäche zu deuten, während die Fähigkeit, Schatten in der realen Welt zu sehen, als Zeichen einer besonders willensstarken Persönlichkeit beschrieben wird; Obwohl ihr bereits an dieser Stelle deutlich werden müsste, dass die hier inszenierte Realität, nicht nur schwarz und weiß sein kann, befolgt sie die Anweisungen der Schattenjägerin. Gemäß deren Ausführungen teilen sich die adoleszenten Protagonisten in zwei Gruppen: Ein Teil wird als willensschwach und kränklich markiert und daher von einem Schatten befallen, der andere Teil wird als besonders willensstark beschrieben und kann daher die Schatten sehen. Doch in Maja werden diese beiden Gruppen vereint, denn sie ist sensibel, introvertiert, leidet an ihrem Übergewicht und ihrer Außenseiterposition und verfügt dennoch über eine besondere innere Willenskraft, die es ihr ermöglicht, mehr zu sehen, als andere. Aufgrund dieser Fähigkeit, wird sie unter einem Vorwand während der Sommerferien auf dem Gut Magoria zur Schattenjägerin ausgebildet und entpuppt sich als die talentierteste unter neuen Anwärtern.

Harry Potter auf dem Ponyhof?

Magoria ist keine irreale Welt und die Schattenjäger-Anwärter laufen auch nicht mit Zauberstäben herum, sondern versuchen, ihre innere Energie freizulegen. Mit autogenem Training, Tai-Chi, Reiten ohne Sattel und Zaumzeug (Horsemanship), Schwimmen und Mantras, die zu einem stärkeren Selbstbewusstsein beitragen sollen, wird alles dafür getan, dass sich die Anwärter auf ihre inneren Stärken konzentrieren. Dem Reiten kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Jeder Schattenjäger wird von einem so genannten Neumondpferd auserwählt. Diese haben eine besondere Verbindung zur Schattenwelt, deren Zugang sich an einem Tag im Jahr öffnet. Nur auf dem Rücken dieser Pferde können die Schattenjäger das Portal durchqueren und wieder zurück finden. In diesem Zusammenhang wird Maja ein weiterer Widerspruch deutlich, denn die Neumondpferde werden als überaus positiv markiert eingeführt und kommen gleichzeitig aus der Welt der Schatten, in der die zu bekämpfenden Wesen leben.
Ein Aspekt, der vorerst nur dem Leser und nicht der Protagonistin auffällt, besteht darin, dass die jungen Schattenjäger mit alt bewährten Methoden zur inneren Stärke finden, sich somit auf ihre positiven Fähigkeiten und Energien konzentrieren sollen, um diese dann destruktiv einzusetzen. Denn ein Spiegel, der das verletzliche Selbst eines verfolgten Menschen zeigt und in den Häusern der Schattenwesen hängt, muss mit der bloßen Faust zerschlagen werden, um den schlafenden Schatten mit einer Spiegelscherbe zu erdolchen. Berücksichtigt man, dass der Grundstein für die Definition der eigenen Persönlichkeit in der Spiegelung in den Augen der Mutter liegt, wird deutlich, dass diese martialische Handlung auf dem Weg zur erwachsenen Persönlichkeit keine allzu sinnvolle Tätigkeit sein kann. Besonders deutlich wird dies durch eine Figur, deren Schatten von einem anderen Schattenjäger getötet wurde und die sich infolge dessen völlig verändert hat. Die Schattenjäger meinen zwar, zum Guten, da er nun endlich zu sich selbst gefunden habe, doch Maja erkennt, dass die Figur völlig Seelenlos erscheint.

Ein psychologischer Roman?

Doch nicht nur zur Entwicklungspsychologie lassen sich Verbindungen herstellen, auch zur Psychoanalyse. So sind die Häuser der Schatten mit den Relikten persönlicher Niederlagen der Verfolgten angefüllt, die von der Autorin mit dem Freudschen Terminus der Erinnerungsspuren (S. 396) umschrieben werden; und wenig später erläutert sie die Freudsche Metapher des Wunderblocks in eigenen Worten, um zu verdeutlichen, dass die traumatischen Erlebnisse keineswegs ausgelöscht sind, sondern ihre Wirkung im Verborgenen beibehalten. Nimmt man dies zum Anlass für eine psychoanalytische Deutung des Romans, ginge es vorrangig um die Verarbeitung verdrängter Traumata, um beispielsweise über autogenes Training, das von einem der Anwärter als Psychotraining bezeichnet wird, zu einer erwachsenen Identität zu finden.
In diesem Zusammenhang sollte der Kampf mit den Schatten jedoch nicht vorschnell als Kampf um eine erwachsene Identität verstanden werden. In der Ermordung der Schatten ist viel eher eine Verdrängung all dessen zu sehen, was schlechte Erinnerungen oder Anteile der Persönlichkeit enthält, deren sich die Figuren schämen.
So entwickelt der Roman, der zu Beginn geradezu klischeehaft anmutet, im weiteren Verlauf eine tiefere Ebene, die zu unterschiedlichsten Deutungsansätzen einlädt. Beispielsweise kann die Adoleszenz mit einer psychischen Krankheit gleich gesetzt werden, die nach den Vorstellungen der Schattenjäger durch die Vernichtung der Erinnerungsspuren überwunden werden kann, während Maja, ganz im Sinne C. G. Jungs erkennt, dass diese in die eigene Persönlichkeit integriert werden müssen, um zu einer einheitlichen Persönlichkeit zu finden. Dies gelingt nicht im martialischen Kampf, sondern in einer verbalen Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten. Die beschriebene (psychische) Krankheit resultiert demnach aus der Abspaltung der dunklen Anteile der eigenen Persönlichkeit. Diese Vorstellung wurde bereits von Lou Andreas-Salomé verdeutlicht. In Mein Dank an Freud schreibt sie:

„…der Erkrankte [trägt] in sich seine Krankheit ja gleichsam selber wie einen Zweiten […], als eine Abspaltung von seiner Persönlichkeit… Im Kampf dieses Zweierlei in ihm kommt es erst allmählich […] zu der Einsicht: mit dem Leiden nicht identisch, sondern damit nur behaftet, ablösbar verknüpft zu sein; aber noch mitten in letzter Ablösung bleibt jede krankhafte Reaktion von der gleichen feindseligen Tücke – ein Patient beschrieb es lebhaft: wie in einem in hundert Splitterchen zerschmetterten Spiegel erkennt man noch im letzten Splitter das ganze Antlitz des Feindes vollständig. Bis der Haß wider diesen Eindringling sich ebenfalls so kondensiert hat, am Glück der Genesung zu ebenso ungeteiltem Zorn wird, als einst passives Gewährenlassen statthatte. Denn mit den lösenden Erinnerungen steigt auch die an die Urängste auf, an deren Unentrinnbarkeit die Neurose sich ansetzte, und läßt sie gegenüber der nun freigelegten Realität in ihrer grausigen Gespenstigkeit erscheinen. Auch dies äußerte ein Patient wie eine neue, ihn stark ergreifende Erwägung: zu denken, daß dergleichen hinter dem Menschen liegt – hinter jedem Menschen, in der Hilflosigkeit erster Erlebnisse, und vor der Entscheidung, ob sie sich gesund bewältigen lassen würden, – das ergäbe ein Grundwissen Menschlichem gegenüber, das jeden Einzelnen, möge er uns später als noch so trivial vorkommen, der bloßen Banalität enthöbe.“ (Andreas-Salomé, S. 174)

Dass tatsächlich alle Menschen der hier beschriebenen Gesellschaft über einen Schatten verfügen, wird gegen Ende des Romans deutlich. So trägt auch jeder Schattenjäger einen solchen in sich, allerdings ohne ihn zu Wort kommen zu lassen (was gleichermaßen pathologisch anmutet).

Eine Therapie-Sitzung?

Die Auseinandersetzung Majas mit ihrem Schatten könnte mit einer psychoanalytischen Therapie-Sitzung verglichen werden. Während der Unterhaltung mit ihrem Schatten setzt sie sich mit den verdrängten Anteilen ihrer Persönlichkeit auseinander, um dem Schatten schließlich die Hand zu reichen, was mit einer Integration dieser verdrängten Anteile in ihre (erwachsene) Persönlichkeit gleichgesetzt werden kann. Im Anschluss hieran versucht sie, die anderen Schattenjäger von der wahren Natur der Schatten zu überzeugen; betreibt demnach ein Entblößungsmanöver, ein Begriff, mit dem Andreas-Salomé die Psychoanalyse selbst beschreibt:

„Psychoanalyse ist nichts als das Entblößungsmanöver; das, vom noch Kranken als Entlarvung gemieden, vom Gesunden als Befreiung erlebt wird; deshalb sogar dann noch, wenn die inzwischen unverändert gebliebene Außenrealität ihn mit Schwierigkeiten noch so umdrängt; denn zum ersten Male gelangen Wirklichkeit und Wirklichkeit damit zueinander, anstatt Gespenst zu Gespenst.“ (Andreas-Salomé, S. 180 f.)

In diesem Sinne werden die Schattenjäger, die in jeder Schwäche einen gefährlichen Krankheitserreger sehen, als pathologisch markiert. Denn sie sind blind für das Potential, das in der Konfrontation mit den menschlichen Schwächen liegt. Ganz im Gegenteil wird Schwäche als infektiöse Gefahr inszeniert, denn, wie der Schattenjäger, dessen Schatten getötet wurde feststellt: „Schwäche ist ein Bazillus. Sie überträgt sich.“ (S. 269)
Durch die Gleichsetzung einer persönlichen Schwäche mit einer Krankheit, knüpft der Roman thematisch an manch klassischen Jugendroman an. Wobei diese meist tragisch enden, gelingt es Maja, die Mechanismen der hier geschilderten Gesellschaft zu durchschauen und ihre Schattenseite als Teil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren.
Die vielfältigen Analyse-Möglichkeiten, die sich eröffnen, machen den Roman zu einem lohnenswerten Forschungsgegenstand, den es noch eingehender zu analysieren gilt. Auch darf man auf unterschiedlichste Fan-Fiction-Beiträge gespannt sein, die durch den Umstand, dass der Roman mit einem offenen Ende schließt, angeregt werden könnten.

Literatur

Andreas-Salomé, Lou. Mein Dank an Freud. (Bd. 4), hrsg. v. Brigitte Rempp und Inge Weber, Taching: 2012.

Jung, C. G. Archetypen. München: 2001.

Richter-Peill, Charlotte. Magoria. Das Haus der Schatten. Rowohlt: 2013.

Über Iris Schäfer

Iris Schäfer ist Lehrbeauftragte und Doktorandin am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik in Frankfurt und London. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind literarische Adoleszenz- und Krankheitsdarstellungen.

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