Die Cináed-Reihe
Daniel Frayne, der Protagonist von Tanja Höfligers 2013 erschienener Cináed-Reihe, ist Schüler einer ganz normalen walisischen Schule in der Nähe von Swansea, wo er auch mit seinen Eltern und seinen drei Schwestern lebt. Seine Welt besteht aus guten Freunden, Surfboards und Mädchen. Doch sein ganzes Leben ändert sich an seinem 16. Geburtstag, als er seine Ausbildung an der Conwy-Akademie beginnt, einer geheimnissvollen Eliteschule, die ihre Schüler in mehrere Ausbildungsklassen einteilt: die Kämpfer, die Mützenträger, die Finder, die Helfer und die Erben. Die Lehre all dieser Zweige dient nur dazu, perfekt auf die Ankunft der großen Stiftträger vorbereitet zu sein, denn die Stifte stellen in der Welt der Akademie mächtige Artefakte dar. Die Stiftträger werden von den Stiften auserwählt, jedoch weiß keiner, wo sich diese momentan befinden. Keiner? Nicht ganz! Denn Daniel hat von seinen Eltern zum 16. Geburtstag einen ganz gewöhnlich aussehenden Stift geschenkt bekommen. Nur ist dieser Stift alles andere als das. Er kommuniziert mit Daniel, klinkt sich erst in dessen SMS und schließlich auch in seine Gedanken ein, als dieser immer mehr mit dem Stift verschmilzt. Zu den Fähigkeiten des mächtigen Schreibgeräts gehören außerdem spontane Selbstentzündungen, zukunftsweisende Vorahnungen und jede Menge nützliche Ratschläge. Doch nur weil Daniel der Stiftträger ist, heißt das noch lange nicht, dass ihm alle seine Mitmenschen positiv gesonnen sind. An der Akademie gibt es eine Menge offene und geheime Widersacher, alle voran der zwielichtige Lehrer Mr. Green und sein bullyhafter Sohn Kilian. Und was führt eigentlich der undurchschaubare aber auch gutmütige Akademieleiter Sir Edmund im Schilde? Und welche Rolle spielt Sue, das kluge und hübsche Mädchen, dass Daniels Aufmerksamkeit gleich an seinem ersten Tag an der Akademie erregt?
Wenn Sie jetzt denken, dass viele der Elemente der Cináed-Reihe auffallend nach Harry Potter klingen, dann haben sie völlig recht. Der Roman bedient sich der bewährten Formel des normalen Jungen, der zu Höherem bestimmt ist und daraufhin in eine magisch-mythische Welt voller Abenteuer, fantastischer Erlebnisse und neuer Figuren aufbricht. Hineingemixt werden sämtliche Elemente, die auch die Potter-Reihe so unverkennbar und erfolgreich gemacht haben: Ein Internat, fiese und zwielichtige Lehrer, gute neue Freunde, fiese und hassenswerte Gegenspieler, interessante Love-Interests und nicht zuletzt ein großer und epischer Plot, der all diese Elemente verbinden soll. Nun soll die offensichtliche Potter-Anleihe der Reihe gar nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn nicht jede Fantasy kann sich komplett neu erfinden. Werden all die aufgezählten Motive, Formen und Ideen gut in Szene gesetzt, kann daraus eine interessante Geschichte entstehen. Doch um es kurz zu machen: Dies ist bei Cináed nicht der Fall.
Die hingekritzelte Handlung
Was sich oben noch wie ein halbwegs übersichtlicher Fanatsy-Plot liest, wird in den bisher erschienenen zwei der drei Cináed-Teilen in einer katastrophalen Unübersichtlichkeit erzählt. Das Erzähltempo wird generell hochgehalten, innerhalb der Kapitel werden stets viele verschiedene Aspekte abgehandelt. Daniel berichtet dabei aus der Perspektive eines Ich-Erzählers zum einen von seinen Gefühlen zu Lou (und Sue, seinem Schwarm aus seinem ‚normalen‘ Leben), seiner Unsicherheit in der Welt der Akademie, seinem Versuch, ein Mann zu werden und dem damit verbundenen Widerstand gegen seine Eltern. Zum anderen erzählt er von seinen Erlebnissen im Internatsalltag und dem epischen Handlungsstrang des Stiftträgers, mitsamt aller damit verbundener Intrigen, Gefahren und Geheimnisse. Man erkennt schnell, dass es einer sehr guten erzählerischen Struktur braucht, um all diese Elemente lesbar und verständlich in einem Text zusammen zu bringen. Diese Struktur fehlt den Romanen jedoch leider völlig. Sämtliche auftretenden Figuren haben hinsichtlich des Erzählflusses die Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsspanne eines Hamsters: alles wird gleichzeitig behandelt, keine Begebenheit wird länger als wenige Sätze ausgeführt, bevor es teilweise mitten im laufenden Absatz schon wieder um etwas anderes geht. Informationen, Verständlichkeit und eine kohärente Erzählung bleiben so völlig auf der Strecke.
Beispiel gefällig? Im Laufe des ersten Bandes landet Daniel durch gefährliche Akademie-Wettkämpfe mehrfach im Krankenhaus. Nach dem zweiten ‚Unfall‘ hat er handfeste Beweise dafür gefunden, dass andere ihn umbringen wollen. Dies erzählt er seinem Vater, welcher bestens über die Hintergründe und das gefährliche Leben des Stiftträgers Bescheid weiß und mehrfach erwähnt, dass der Schutz seines Sohnes bei ihm an oberster Stelle steht. Er beginnt dann auch, Daniel einige Verhaltenstipps zu geben, nur um direkt danach folgendes zu sagen:
„Doch Dad holte mich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, als er mich ansah und sagte: ‚Eigentlich hätte ich heute noch etliche Dinge mehr zu erledigen. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass deine Schwester Maggie rund drei Wochen nach dir Geburtstag hat?‘ Das war mal wieder einer von Dads berühmten Schlägen in die Magengrube! Klein Daniel wurde von ihm als Blödmann bloßgestellt. Am meisten störte mich daran, dass ich mich seit einiger Zeit in Lebensgefahr befand. Doch er hatte nichts Besseres zu tun, als mir vorzuhalten, den Geburtstag meiner Schwester am Tag meiner geplanten Tötung vergessen zu haben! Ging’s eigentlich noch?“ (S. 244f.)
Nein, es geht nicht mehr! So unnachvollziehbar dämlich wie in diesem kurzen Ausschnitt verhalten sich ausnahmslos alle Figuren und das andauernd. Innerhalb von Gesprächen wird nahtlos das Thema gewechselt, längere Gespräche finden so gut wie gar nicht statt und werden meist schnell von neuer Handlung unterbrochen. In der oben zitierten Stelle geht es daher nicht nur um die versuchte Tötung an Daniel, sondern auch um seinen Widerstand gegen die Vaterfigur. Der Geburtstag der Schwester findet abseits dieser Szene übrigens keinerlei weitere Erwähnung. Mit fortschreitender Länge des Textes wird die Handlung immer komplexer und unverständlicher. Immer mehr Figuren treten mit ihren ganz eigenen und leider oft unerklärten Motivationen auf, ein Storytwist jagt den nächsten, nur um nach endlosen Revision wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Es ist bezeichnend, dass man auch zum Ende des zweiten Bandes eigentlich noch kein klares Bild davon hat, was genau die Stifte eigentlich so mächtig und begehrenswert macht, denn ihre bis dahin gezeigten Fähigkeiten würden einen Zauberer aus der Welt von Hogwarts eher müde lächeln lassen.
Strichmännchen-Figuren
Die Figuren der Reihe fühlen sich von den grubentiefen Logiklöchern scheinbar nicht sonderlich gestört. Genaugenommen greifen sie mit ihren Aussagen und Handlungen noch aktiv zur Schaufel, um diese noch ein wenig tiefer zu buddeln. Daniels Eltern wissen über die Pflichten, Riten und Gefahren des Stiftträgers bestens Bescheid, lassen ihren Sohn aber darüber im Unklaren. Zu Beginn der Serie kann dies noch logisch erklärt werden, soll sich doch der Stift seinen Träger selbst auserwählen. Sobald dies geschehen ist, wird jedoch kein wirklicher Grund mehr genannt, wieso man Daniel nicht über die Gefahren seiner neuen Bestimmung aufklärt. Man lässt ihn im Dunkeln tappen und somit in eine Gefahrensituation nach der anderen stolpern, welche ihm dann meistens in der Retrospektive noch einmal erklärt wird. Natürlich sind diese Szenen wichtig für eine spannende und actionreiche Handlung, Sinn aus der Motivation der Figuren machen sie trotzdem nicht. Auch auf Seiten der Antagonisten reichen simpelste Beweggründe dafür aus, sich für die böse Seite zu qualifizieren. Der Akademie-Lehrer Mr. Green und sein Sohn Kilian wollen selbst die Macht der Stifte erlangen um damit – ja, was eigentlich? Wahrscheinlich die Welt zu beherrschen, klar ist ihr Ziel jedoch selbst am Ende von Band zwei noch nicht, aus dem simplen Grund, dass über die Kraft der Stifte noch zu wenig bekannt ist. Vater und Sohn geben sich dabei kaum Mühe, ihre Bosheit zu verbergen, sie bringen Daniel offen und für alle gut sichtbar in Gefahr: Kilian ist aggressiv und spricht Morddrohungen aus und Mr. Green ist so clever und schreibt den Nachruf auf Daniel für einen geplanten Anschlag auf sein Leben schon einmal am Vortag (was dazu führt, dass Daniel davon erfährt und den Anschlag verhindern kann). Außerdem klaut Mr. Green alle wichtigen und geheimen Dokumente des Akademieleiters, ohne sich auch nur im Ansatz darum zu bemühen, bei seinem Diebstahl nicht aufzufallen. Daniel spaziert in einer Szene einfach durch die weit offenstehende Tür des Leitungsbüros, in welchem Mr. Green gerade dabei ist, Dokumente zu durchwühlen.
Diese Art der Figurenzeichnung ist diplomatisch formuliert einfach nur faul. Sämtliche Figurenmotivation werden offensichtlich von einer externen Quelle erzeugt, nämlich der Autorin des Textes, die mit führender Hand ihre Erzählung voranbringen möchte. Glaubhafte Handlungen und Aussagen bleiben so leider größtenteils auf der Strecke. Als Leser fällt es daher extrem schwer, eine Verbindung zu den Figuren zu entwickeln. Doch selbst dem Protagonisten scheint dieses Problem ironischerweise bewusst zu sein. Daniel, der den Löwenanteil der ersten beiden Romane vor allem mit Reaktionen auf Ereignisse beschäftigt ist, fühlt sich stellenweise in eine Realityshow versetzt (Band 1, S. 90) und landet irgendwann bei folgender Erkenntnis: „Alles kam mir unwirklich vor – wie in einem schlechten Film. Wer, verflucht noch mal, hatte mir darin die Hauptrolle zugeteilt?“ (Band 1, S. 181). Deine Autorin, Daniel, die war’s!
Grundriss bitte nochmal neu zeichnen – Statik passt nicht!
Auf Amazon ist die Cináed-Reihe unter Fantasy gelistet und zweifelsfrei hat der Roman auch viele phantastische Elemente. Ob es sich nun aber um Magie, Zauberei, arkane Kräfte oder Science-Fiction handelt, lässt der Roman offen. Ein großes Problem ist dabei die Beschreibung der Welt, genauer gesagt, der Akademie und aller angeschlossenen Räumlichkeiten. Hier greift Höfliger in die Vollen und reiht eine wundersame Begebenheit an die nächste – Autos haben von innen viel mehr Platz als man ihnen ansieht (in einem Bus befindet sich beispielsweise ein ganzer Verwaltungstrakt der Akademie), viele Orte sind über sogenannte Nebelschleusen miteinander verbunden, die man einfach durschreiten muss. Gleichzeitig gibt es den Nebenblitz, eine Art Achterbahn, die verschiedene Ebenen der Akademie miteinander verbindet. Daniels Zimmer in der Akademie sieht aus wie das Zimmer im Haus seiner Eltern, es wird über einen Aufzug erreicht, der genau seine Zimmertür ansteuert. All diese aufgelisteten Dinge könnten wunderbar ihren Platz in einem Fantasyroman finden, wirken in Cináed aber oftmals völlig kontextlos, als seien sie einfach nur vorhanden, um es den Figuren zu ermöglichen, so schnell wie möglich alle relevanten Handlungsorte abzulaufen. Den Orten und Dingen fehlt einfach eine Funktion über ihren direkten Zweck für die Erzählung hinaus. Eine Außenstelle der Akademie in London ist beispielsweise ein Hochhaus, welches wie folgt ausgestattet ist: „Es war einfach alles vorhanden. Es gab ein Kino, Bowlingbahnen, Billard, Tischfußball, einen Surfsimulator, ein Schwimmbad mit fünf Rutschen. Eine davon führte bis ins Erdgeschoss, wo sie in einem Becken endete, das mit einem Mixgetränk gefüllt war. Krass!“ (Band 1, S. 85) Diese krasse Kinderphantasie bekommt in den ersten beiden Bänden nur eine Bedeutung zugesprochen: Daniel nimmt eine nicht für ihn bestimmte Rutsche, die ihn auf irgendeine nicht näher erklärte Weise zum Hafenbecken der Akademie in Conwy befödert. Er entgeht so gleichzeitig einem weiteren auf ihn geplanten Anschlag auf einer zusammenkrachenden anderen Rutsche. Im zweiten Band reist Daniel auf diesem Weg von Conwy nach London (was er nicht hätte tun müssen, denn sein ‚Fahrer‘ erreicht den Ort per herkömmlichen Auto scheinbar nur Minuten später).
Die phantastischen Elemente in Cináed suchen nach einer Daseinsberechtigung über ihre ‚Krassheit‘ hinaus, finden aber oft keine. Warum fährt in der Akademie eine Achterbahn, wenn es auch die Nebelschleusen gibt? Warum ist die Akademie so gut unterirdisch getarnt und versteckt, wenn während der jährlichen Wettkämpfe ganz normale Leute aus dem Ort die Wettkampfrichter stellen? Warum ist das gesamte Handeln und Tun der Akademie darauf ausgerichtet, Stiftträger zu erkennen und zu finden und dennoch kann Daniel den gesamten ersten Band über unerkannt mit dem Stift in der Akademie herumlaufen? Diese Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, doch der Punkt ist auch so schon gemacht.
Ein Bild aus zu breiten Strichen
Die Cináed-Reihe bedient sich populärer Motive und Themen anderer Jugendbuch-Reihen. Neben den klaren Anleihen zu Harry Potter findet sich eine verbotene Liebesgeschichte, die in ihrer Emotionalität an Twilight erinnert und die Akademie-Wettkämpfe nehmen in ihrem Verlauf ebenfalls immer mehr die Ausmaße der Hunger Games an. Doch die Romane schaffen es nicht, aus all diesen Elementen ein funktionierendes Ganzes zu machen. Alles wird auf die Leinwand geworfen, doch ergibt sich aus Figuren, Geschichten, Hintergründen und Erzählsträngen niemals ein ineinander gehendes Bild. Es bleibt bei ins kleinste zerteilten Häppchen. Das durchgängige Lesen dieser Häppchen ist ungemein anstrengend, hat man doch ständig das Gefühl, irgendetwas überlesen zu haben. Dem Text scheint das grundlegende Verständnis für funktionierende Fantasy zu fehlen – phantastische Elemente und Handlungen werden vor allem eingesetzt, um einen Effekt zu erzielen, nicht aber, um damit eine funktionierende und glaubhafte Welt zu erzeugen. Natürlich kann es sein, dass der noch unveröffentlichte dritte Band der Reihe viele offene Fragen beantwortet und aus dem Stückwerk ein Ganzes macht. Doch so oder so, für diesen dritten Band ist der Preis, die ersten beiden Bände lesen zu müssen, einfach zu hoch veranschlagt.
Literatur
Höfliger, Tanja (2014): Cináed. Aus dem Feuer geboren. Überarbeitete und korrigierte Neuauflage. Fellbach: Fabulus-Verlag.
Höfliger, Tanja (2015): Cináed. Durch Blut getränkt. Überarbeitete und korrigierte Neuauflage. Fellbach: Fabulus-Verlag.