Ein Handlungsspielraum, drei verschiedene Geschichten
Bettina Wilpert hat für ihr zweites Buch Herumtreiberinnen wieder die Stadt Leipzig als Ausgangsort für ihre Erzählung, die sich an der außertextuellen Realität orientiert, gewählt. Das Besondere dieses Mal ist, dass ihr Roman auf der Zeitebene drei unterschiedliche Geschichten zusammenbringt, indem er sie durch ein und denselben Ort verbindet: ein Gebäude in der Lerchenstraße. Ein Haus, das im Laufe der vergangenen 100 Jahre seine Funktion verändert hat und somit für die Protagonistinnen Lilo, Manja und Robin unterschiedliche Handlungsspielräume setzt. Die Leser:innen erfahren durch diese drei Figuren, wofür der Gebäudekomplex in der Leipziger Straße 1944, 1983 und 2016 genutzt wurde.
Ein Haus im Wandel der Zeiten
Im Nationalsozialismus diente es als Gefängnis für Frauen. So wird Lilo hier festgehalten, weil sie politischen Widerstand leistete. Im diktatorischen Staat der DDR war es dann eine geschlossene Venerologische Station, die im Volksmund nur „Tripperburg“ genannt wurde. Es wurden dort Frauen interniert, wenn sie dem Staatsapparat wegen ‚unsittlichem‘ Verhalten ein Dorn im Auge waren. Manja erfährt am eigenen Leibe, was es bedeutet, als dieser Dorn wahrgenommen zu werden und gegen ihren Willen, ohne haltbare Vorwürfe dort festgehalten zu werden. Im neuen Jahrtausend unter demokratischer Staatsführung mit einer freien, neoliberalen Marktwirtschaft werden die Räumlichkeiten schließlich als Unterkunft für Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, genutzt. Robin versucht als Sozialarbeiterin den Bewohner:innen bei ihrem Start im neuen Land zu helfen und wird dabei mit bürokratischen Hürden konfrontiert.
Die Form der Erzählung schreibt sich in die Geschichten ein
Alle drei Protagonistinnen verbindet, dass sie weiblich sind und sich in ihrer Adoleszenz befinden, wenn auch an unterschiedlichen Punkten dieser. Jede Geschichte der drei Figuren bekommt eine eigene Form der Erzählung. So erzählt Manja aus der Ich-Perspektive ihre eigene Geschichte aus der Rückschau, die auch am meisten Platz im Buch einnimmt. Klassisch durchlebt ihre Figur erste Male, die ihr die Unschuld der Kindheit abnehmen und sie in die Trubel des Erwachsenenwerdens hineinwerfen. Lilos und Robins Geschichten werden von einer Erzählinstanz aus der 3. Person geschildert, die aber immer wieder Einblick in die Innenwelt der Figuren gibt. Lilos Geschichte erscheint dabei wie ein Entwicklungsroman, der ihre Inhaftierung in dem Gefängnis als Ausgangspunkt nimmt, um einen Rückblick auf ihre Transformation vom Kind zur jungen Frau zu werfen. Für Robin wiederum ist die Lerchenstraße ein Ausgangspunkt für einen neuen Lebensabschnitt, der aber immer noch Teil ihrer Adoleszenz zu sein scheint. Robins Lebensweg und ihre Reflexionen erzählen das, was in der KJL-Forschung eine ‚verlängerte Adoleszenz‘, die sich bis in die 30er hineinzieht und typisch für die Postmoderne ist, genannt wird.
Adoleszenz als ein historisch-kulturelles Konzept
Es wird den Leser:innen durch den Inhalt und die Form auch erzählt, dass Adoleszenz ein historisch-kulturelles Konzept ist, das sich je nach sozio-kulturellem Kontext verändert. Vereint werden die drei Figuren allerdings durch ihr Gefühl des Getriebenseins, der Suche nach einer Identität, die sich von den Fesseln des Frauseins und der Abhängigkeit von Gesellschaft, Familie und Staat lösen kann. Diese Fesseln sind bei Lilo und Manja besonders sichtbar, leben sie in Staaten, die willkürlich Menschen bestraft und eingesperrt haben, wenn ihr Leben als nicht-konform eingestuft wurde. Durch die Verankerung in der Realität mit historischen Referenzen und durch die Einblicke in die Innenwelten der beiden Figuren, zu denen sich leicht Sympathie aufbauen lässt, bekommen die Leser:innen ein Gefühl dafür, wie es sich angefühlt haben könnte, als Frau, die sich ihrer Rolle in den Diktaturen des letzten Jahrhunderts nicht beugen wollte. Doch auch Robin scheint gefangen und zeigt in ihrem Wunsch nach einem Wunsch, der ihrem Leben eine Richtung gibt, ihre Getriebenheit. In ihrer Figur lässt sich das Suchen nach Halt in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten lesen, doch kann es leider vielmehr nur erahnt werden. Robins Geschichte bekommt am wenigsten Platz zur Entfaltung und wirkt dadurch an manchen Stellen etwas konstruiert.
Herumtreiberinnen – besonders auf verschiedenen Ebenen
Herumtreiberinnen ist trotzdem ein Roman, dessen Lektüre sich wegen seiner Erzählführung durch die verschiedenen Geschichten und durch die Geschichte des Gebäudes in der Lerchenstraße lohnt. Auf formaler Ebene ist gerade die Erzählung der Zeit gelungen, denn sie wird zur Handlungsträgerin und vermittelt das Gefühl des erzwungenen Stillstands, den die Figuren in der Lerchenstraße erleben. Herumtreiberinnen steht damit beispielhaft für die Symbolhaftigkeit und die Verbindung von Raum und Zeit in literarischen Texten. Besonders ist der Roman außerdem in seiner Form, da er verschiedene Erzähltypen von Adoleszenz vereint, auch wenn die Konstruktion nicht an allen Stellen trägt. Gerade die Geschichte von Manja fesselt und gibt dabei einen Einblick in die noch wenig erzählte Vergangenheit von Frauen in der DDR.
Literatur
Wilpert, Bettina: Herumtreiberinnen. Berlin: Verbrecher Verlag 2022.