Kinder und Comics – Kindercomics?
Obwohl dem Medium Comic lange Zeit das Image der kindlichen, einfachen und vermeintlich seichten Unterhaltung anhaftete, gibt es jenseits des lustigen Taschenbuchs und der Micky-Maus Hefte überraschend wenig Comics, die sich ausdrücklich an Kinder richten. Neben den Erich Kästner-Adaptionen von Isabel Kreitz, hat sich in den letzten Jahren insbesondere der Berliner Reprodukt Verlag dieser vernachlässigten Sparte gewidmet und eine eigene Reihe von Kindercomics, sowohl Übersetzungen als auch deutsche Eigenproduktionen, veröffentlicht. Das darin etablierte breite Spektrum an Themen und ästhetischen Formen des graphischen Erzählens weist eine große Vielfalt auf und verdeutlicht die narrativen Möglichkeiten des Mediums für kindliche Rezipienten. Diese Comics richten sich dabei jedoch nicht nur an junge Erstleser oder laden zum Vorlesen ein, sondern können aufgrund ihrer Doppeladressierung als All-Age-Phänomen gelten. Denn hier werden facettenreiche Erzählräume aufgespannt, die verschiedene Lesarten anbieten.
„Ach je. Ein Kind in ulkigen Klamotten.“ – Die Reihe um Hilda und …
Aus dem Verlagsprogramm sticht in dieser Hinsicht besonders die mittlerweile vier Bände umfassende Reihe um das kleine Mädchen Hilda von Luke Pearson hervor. Die Geschichten sind in der fiktiven Stadt Trolberg verortet und eröffnen magisch-phantastische und skurrile Welten, deren Grenzgängerin die aufgeschlossene Hilda ist. Mit viel Witz und Sensibilität, begleitet von detailreichen Zeichnungen, erzählt Pearson von den Erlebnissen Hildas. Zu Beginn der Serie lebt sie mit ihrer Mutter allein auf einem abgelegenen Bauernhof in einer einsamen Berglandschaft. Dort begegnen ihr Trolle, Riesen und andere Zauberwesen, die die Wege in phantastische Ebenen öffnen, darüber vor allem aber die Themen von Freundschaft, Zuneigung, Toleranz und Offenheit für andere reflektieren. Die ausdrücklich räumlichen Entgrenzungen verbinden sich immer wieder mit den damit einhergehenden bedrohlichen Dimensionen der Erfahrungen des Alleinseins und der Fremdheit und verhandeln zentrale Fragen und Entwicklungsprozesse der Kindheit. Die Ambivalenz von Bedrohung und positiver Begegnung wird auch in der Verbindung von cartoonhaften Figuren und bunten Zeichnungen mit dunklen Farbnuancen herausgestellt. Die unendlich weiten und bisweilen surealen Landschaften und die tiefen Wälder erinnern nicht zufällig an die Seelenlandschaften Tove Janssons Mumins. Pearson reiht sich deutlich in diese Tradition ein, kreiert darüber hinaus dennoch einen eigenständigen Duktus. Die besondere Stärke der Comics liegt dabei in der dualen Erzählweise von Bild und Text: Darüber werden hintergründige und wichtige Themen angesprochen, die von den kraftvollen Zeichnungen nicht nur illustriert werden, sondern geschickt miteinader verwoben sind. Pearson schöpft das Spiel mit der äußeren Form konsequent aus und lässt etwa auch die Panelrahmen eigenständige Funktionen für die Erzählung tragen. Insbesondere über den Bildkanal entstehen in den Hilda-Comics so plastische Bildwelten, die von gewitzten und doppelsinnigen Texten begleitet werden und die Protagonistin Hilda als sympathische, mutige, kluge und offenherzige Figur entwerfen, die sich umsichtig in ihrer Umwelt bewegt.
Hilda und der schwarze Hund
Im vierten Band der Reihe leben Hilda und ihre Mutter nun nicht mehr auf ihrem abgelegen Bauernhof, sondern in einer kleinen Wohnung im Zentrum der Stadt. Trotz der topographischen Verschiebung bleibt Hildas besondere Verbindung zur und Freude an der Natur bestehen und bildet weiterhin den Ausgangspunkt des Erzählens. Eine damit verbundene ambivalente Grundstimmung sowie die Überlagerung von Phantasie und Realität deutet sich als zentrales Element bereits auf der ersten Seite an: in dunklen und gedeckten Tönen wird in einem großformatigen Panel in einer Totalen auf die Stadt in die Erzählung eingeführt. Es regnet in Strömen und schemenhaft ist der Schatten eines großen Tieres, das von einem Felsvorsprung auf die Stadt blickt, zu sehen. Am Fuße des Berges steht ein kleines Zelt, in dem – wie der Zoom in eine kleinere Einstellung zeigt – die Protagonistin Hilda alleine übernachtet. Von einem Geräusch aufgeschreckt will sie draußen nachsehen. Als Cliffhanger endet damit die erste Seite und erzeugt bereits in wenigen Bildern einen Spannungsbogen, der im darauffolgenden Panel der zweiten Seiten direkt entladen wird: ein großes Monster steht plötzlich in der Zeltöffnung und schreit Hildas Namen. Wie das zweite Panel zeigt, handelt es sich dabei jedoch um Hildas Mutter – Hilda hat die vorangegangen Bilder nur imaginiert und statt am Fuße eines Berges, in ihrem Zimmer eine Zelthöhle gebaut. Der Switch der Wahrnehmungs- und Realitätsebenen wird dabei auch in der Farbästhetik aufgegriffen und wechselt von bedrohlich dunkel zu kräftig bunt. Diese graphischen Spannungen und damit verbundenen Übertritte innerhalb der Handlungswelt werden im weiteren Verlauf als narratives Stilmittel immer wieder aufgegriffen. Vordergründig wird dabei zunächst von Hildas Erlebnissen beim örtlichen Pfadfinderverein berichtet: sie geht zum Zelten, sammelt Sachspenden und jagt dem damit verbundenen und langersehnten Abzeichen nach. In ihren Bemühungen wird sie jedoch immer wieder abgelenkt, was sich schließlich zu einer detektivischen Spurensuche verdichtet, in dessen Zentrum die Jagd nach einem mysteriösen Geisterhund steht. Gleichzeitig freundet sich Hilda mit dem verstoßenen, aber friedfertigen Hausgeist Tontu an. Dieser gehört zur Spezies der sogenannten Nissen, die in menschlichen Wohnungen eigene Zwischenreiche bewohnen. Er führt sie in die Geheimnisse dieser versteckten Räume und Orte ein und berichtet auch davon, dass immer mehr Geister aus ihren Häusern aus dubiosen Gründen verwiesen werden. Hilda sammelt im Verlauf immer mehr Mosaikteile und kann die Ereignisse beider Erzählstränge schließlich Schritt für Schritt in einem virtuosen Finale zur Lösung zusammenfügen.
Zentrales Thema ist dabei immer wieder die Suche und Auseinandersetzungen mit umgebenden Räumen, sowohl im Mikrokosmos der Wohnung, die durch die Hausgeister eine magische Ausdehnung erfährt, als auch in der Makroperspektive zwischen Stadt und umgebenden Wäldern in denen der große Hund umgeht. Inwiefern diese beiden Ebenen dabei gleichzeitig miteinander verbunden sind, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, denn dies markiert den gelungenen Twist der Erzählung. Die labyrinthischen Irrwege Hildas innerhalb der Handlung werden dabei konsequent in der Seitenarchitektur aufgegriffen und etablieren komplexe Anordnungen der Panels, die diese Wege in der äußeren Form der Erzählräume beständig aufgreifen. Die Differenzen von magischer und innerdiegetisch realer Ebene werden dabei vor allem durch den Zeichenduktus und die Farbästhetik markiert, die diese Farbkontraste spannungsvoll einsetzen und im Finale in einer furiosen Verfolgungsjagd über mehrere Seiten münden. Hilda wird dabei aber nicht nur zur detektivischen Spürnase, die den Hinweisen bedacht nachgeht, sondern zeigt sich als einfühlsames Mädchen, das sich mit großer Offenheit anderen Wesen ohne Vorurteile zuwendet. Die Botschaft für Toleranz und Aufmerksamkeit für Andere wird dabei angenehm subtil verpackt und erhebt niemals einen pädagogischen Zeigefinger, sondern stellt eine eigenständige Geschichte und das damit verbundene Lesevergnügen in den Vordergrund. Die Hilda-Comics – und insbesondere Hilda und der schwarze Hund – werden so zum magischen Erfahrungsraum der Kindheit, der nicht nur idyllisch und heiter, sondern bisweilen auch bedrohlich und aufstörend ist und in seiner Mehrdimensionalität auf allen Ebenen überzeugt.
Literatur
Luke Pearson (2014): Hilda und der schwarze Hund. Berlin: Reprodukt.