Erste Schritte im Raum
Die Analyse von Kinder- und Jugendliteratur (KJL) in einer dezidierten topographischen Perspektive nimmt erst zögerlich Formen an und etabliert sich – trotz des vielbeschworenen Spatial Turns der Kulturwissenschaften – nur langsam in der deutschen KJL-Forschung. Ausgehend von dem mehrtägigen Symposium Topographien der Kindheit (Ludwigsburg 2013) ist bereits ein gleichnamiger Sammelband unter der Herausgabe von Caroline Roeder erschienen (transcript: 2014). Das Kompendium Himmel und Hölle, wieder herausgegeben von Roeder, setzt die Raumerkundungen in der KJL nun fort, öffnet den Blick aber ausdrücklich für einen interdisziplinären Zugriff: die literaturwissenschaftlichen Analysen stehen wie selbstverständlich neben Untersuchungen anderer Disziplinen, die die Kategorie Raum vor allem für einen schulischen Zugriff fruchtbar machen. So deckt das Spektrum beispielsweise ebenso mathematik-didaktische Betrachtungen wie geographische Bezüge und Ansätze für den Kunst- und Musikunterricht ab.
Zwischen Himmel und Hölle
In der stimmigen Einleitung führt Caroline Roeder in das diversifizierte Feld der Topographieforschung ein und zeichnet nach, „wie Räume fachwissenschaftlich und fachdidaktisch erschlossen werden können“ (S. 17). Unter dieser Prämisse versammeln sich die elf Beiträge, die klugerweise nicht nach ihren jeweiligen Disziplinen sortiert sind, sondern sich an drei Leitkategorien orientieren und es zulassen, dass die in der Kategorie Raum inhärenten Schnittstellen fruchtbar gemacht werden können. Die Zwischentitel veranschaulichen, welche vielseitigen Anknüpfungspunkte die Frage nach Räumen eröffnet: „Räume & Vorstellung“, „Räume & Körper“ und „Räume & Repräsentationen“ markieren die zentralen Koordinaten, entlang derer sich die Untersuchungen verorten. Der Gewinn des Bandes liegt dabei in der Doppelperspektive von interdisziplinärem Zugriff und der Verschaltung mit didaktischen Fragen, die durchweg überzeugend eingelöst werden.
Räume & Vorstellungen
Christina Ulms konziser Auftaktsbeitrag untersucht das titelgebende Doppelmotiv des Himmels und der Hölle in der KJL und zeigt auf, wie dieses eigentlich nicht real verortbare Gegensatzpaar im kollektiven Gedächtnis verankert ist und in spezifischen topographischen Vorstellungen realiter wird. Einen Einblick in mathematische Denk-Räume und deren Potential für die Entwicklung von verschiedenen mathematischen Kompetenzen gibt Sebastian Kuntze; diese verbinden sich mit einer interdisziplinären Perspektive, in der sichtbar wird, wie „Räume als Lerngegenstand von Mathematikunterricht auch über Fächergrenzen hinaus einen wichtigen Bildungsbeitrag leisten“ (S. 55; Hervorhebung im Original).
Sandra Sprenger und Carina Peter setzen die geöffnete Sichtweise fort und diskutieren die fachdidaktischen Implikationen des Begriffs Raum für den Geographie-Unterricht und stellen die Diversität des Begriffs heraus. Denn Raum ist auch in diesem Forschungsfeld keineswegs eindeutig definiert und bleibt als offene Kategorie gedacht, die mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen einhergeht und Fläche für diverse Einschreibungen sein kann. Daran anknüpfend schlagen sie vor, unter Bezug auf das Raumkonzept von Wardenga (2002, 2006), vier Dimensionen zu unterscheiden und so beispielsweise den „Raum als Container“ aber auch „als Kategorie der Sinneswahrnehmung“ (S. 75) in den Unterricht zu integrieren.
Den Abschluss des Kapitels bildet Monika Millers Artikel, der den Raumbildern und Erzählräumen in Kinder- und Jugendzeichnungen nachgeht. Zentraler Referenzaspekt ist darin die Frage nach Perspektivendarstellungen und der Entwicklung von dynamischen hin zu komplexen Raumstrukturen in Bildform, die ab einem bestimmten Zeitpunkt mit der Darstellungskompetenz brechen. D.h. die eigenen zeichnerischen Kompetenzen werden nicht mehr als ausreichend genug empfunden, um die neu gewonnen Raumvorstellungen abzubilden. Dieser Frustration sollte der Kunstunterricht nach Miller frühzeitig entgegenwirken und bei „der Entwicklung neuer und differenzierter Raumvorstellungs- und Darstellungssysteme unterstützen“ (S. 104).
Räume & Körper
Hubert Sowa setzt die kunstwissenschaftlichen und kunstpädagogischen Analysen fort und vermisst die verkörperten Raumimaginationen – d.h. er entfaltet verschiedene künstlerische Arbeitsprozesse, die Raumerfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen evozieren und legt offen, welche Ebenen in der formalen Gestaltung zusammenlaufen: „Symbolisierungen, Ausdrucksqualitäten, Narrationen, historische Aneignungsprozesse, soziale Interaktion […]“ (S. 130). Einem literarischen Gegenstand – aber in ebenso interdisziplinärer Perspektive – widmet sich Peter Rinnerthaler. Er fragt nach dem Verhältnis von topographischen Strukturen literarischer Texte und akustischen Phänomenen, die damit verschaltet sind. So eröffnet sich eine völlig neue Koordinate des erzählten Raumes, die „semantisierte (Hör-)Räume“ (S. 136) absteckt. Die Umsetzung von literarischen Räumen auf einer Bühne, bzw. den Medienwechsel vom Roman zum Theaterstück zeichnet Gabriele Czerny nach. In ihrem Praxisbericht schildert und reflektiert sie die Erfahrungen mit einem Seminarkurs und veranschaulicht, dass Raum im Theater ebenso mit den Schauspielern, dem Licht und den Kostümen korreliert – sich das Bühnenbild aber als zentraler Darstellungsfaktor und beinahe eigenständiger Protagonist erweist.
Eine gänzliche andere Verkörperung von Raum und Weg vermisst Heike Deckert-Peaceman, die den „Schulweg als Zwischenwelt[]“ (S. 161) untersucht. Verschiedene literarische Texte, sowohl autobiographisch als auch fiktional, werden auf ihre Darstellung und Funktionen des Schulweges hin analysiert und münden in ein Plädoyer, dieses Potential zu nutzen; für eine Öffnung, „die Schule als kindgerechten Lern- und Erfahrungsraum und in diesem Sinne als Bildungsraum zu verorten“ (S. 176).
Räume & Repräsentationen
Das letzte Kapitel beleuchtet das Verhältnis von Räumen und Repräsentationen, wie Christiane Dätsch am Beispiel von „Raumerkundungen im Museum“ (S. 181) zeigt. Sie steckt die erinnerungskulturelle Funktion von Museen ab und fächert auf, wie räumliche Strategien für die Kuration von Ausstellungen fruchtbar gemacht werden können. Postkoloniale Topographien in der KJL und deren didaktischen Potential für den fremdsprachlichen Deutschunterricht erörtert hingegen Judita Kanjo. Sie liefert eine schlüssige Typologie postkolonialer KJL und verdeutlicht, wie diese Texte für ein interkulturelles Lernen sinnvoll sein können. Den Abschluss des Bandes steuern Urs Bauch und Robert Lang bei. Sie beschreiben die Entstehung und Durchführung einer Live-Performance während des Topographien der Kindheit Symposiums und eröffnen die performativen Zugänge zum Raum aus einer gänzlich neuen Sichtweise. Darin verbinden sich körperliches Spiel, Musik und Raumstrukturen zu einem dichten Gewebe, das verschieden Topographien der Kindheit beinhaltet.
Eine kurze Geschichte von fast allem
Der Sammelband liefert eine wünschenswerte Herangehensweise an Phänomene des Raumes, die den Leser durchweg eher im Himmel verweilen und die Lektüre keinesfalls zur Hölle werden lassen. Die vielseitigen Facetten der Kategorie Raum werden umfassend reflektiert und erstmals mit einer didaktischen Perspektive verbunden, die die Potentiale für den Schulunterricht zeigt. In Anbetracht dessen, dass die KJL-Forschung in diesem Feld noch in den Anfängen steckt – vor allem auch in didaktischer Hinsicht –, wäre zwar eine stärkere Fokussierung auf literaturwissenschaftliche Analysen wünschenswert gewesen, der Band liefert aber auch so anregende Impulse, die hoffentlich zu weiteren Vermessungen der Kindheitsräume führen.
Literatur
Caroline Roeder (Hrsg.): Himmel und Hölle. Raumerkundungen interdisziplinär & in schulischer Praxis. München: kopaed, 2015.