Das Komplettpaket ‚Jugendroman‘
In Jandy Nelsons Roman Ich gebe dir die Sonne sind die Zwillinge Noah und Jude die Hauptfiguren. Diese leben mit ihren Eltern in dem kleinen Örtchen Lost Cove, irgendwo an der amerikanischen Westküste. Als Leser verfolgt man die Wege der beiden Protagonisten über verschiedene Stationen von ihrem 14. bis zu ihrem 17. Lebensjahr. Zu Beginn der Erzählung sind die beiden ein Herz und eine Seele, beste Freunde und Vertraute. Während Jude zu diesem Zeitpunkt kurz davorsteht, in eine Peergroup von coolen Surferkids aufgenommen zu werden, wird Noah als schüchterner und verschlossener Außenseiter dargestellt, welcher damit kämpft, seine Homosexualität nicht publik werden zu lassen (von der zu diesem Zeitpunkt außer ihm selbst niemand weiß).
Beide Jugendlichen sind künstlerisch begabt, Noah ist ein brillanter Zeichner, welcher die Welt in schillernden Farben wahrnimmt, Jude kreiert Kleider und übergroße Sandfiguren am Strand, also Skulpturen, die nur einen Gezeitenwechsel überdauern. Motiviert von ihrer im Kunstjournalismus arbeitenden Mutter sollen sich die beiden für die CSA bewerben, eine renommierte Kunst-Highschool im Ort.
Nur wenige Seiten später springt die Handlung drei Jahre in die Zukunft, Jude und Noah sind jetzt 16 Jahre alt. Die beiden ehemals unzertrennlichen Zwillinge reden kein Wort mehr miteinander, zwischen ihnen herrscht eine eisige Kälte. Jude hat es an die CSA geschafft und scheint dort todunglücklich, sie findet keinen Draht zu ihren Mitschülern und ihre künstlerischen Versuche enden regelmäßig in einem Totalausfall. Während sie sich sozial immer mehr isoliert, hat Noah sich komplett von der Kunst entfremdet, stattdessen wirkt er jetzt wie ein weitestgehend ‚normaler‘ Teenager, mit einem festen Freundeskreis und einer besten Freundin.
Die Mutter der Zwillinge ist in der Zwischenzeit durch einen Autounfall verstorben, diese traumatische Erfahrung scheint die Familie nie aufgearbeitet zu haben. Beide Jugendlichen geben sich offensichtlich eine bedeutende Mitschuld am Tod der Mutter, die Gründe dafür erfährt man in diesem zweiten Kapitel noch nicht.
Anhand dieser ersten beiden Abschnitte ist die Struktur von Ich gebe dir die Sonne erklärt: Der Roman wirft seine Leser in zu Beginn kaum ausgeführte Situationen, die viele Fragen zur Handlung aufwerfen: Wieso hat sich das Verhältnis der Geschwister im Verlauf von drei Jahren so grundlegend verändert? Wie kommt der Wandel in den Persönlichkeiten der beiden zustande? Und wie konnte sich innerhalb der Leerstelle zwischen den beiden Zeitabschnitten ein offensichtlich sehr schwerer psychischer Ballast bei beiden Figuren entwickeln?
Clever verschachtelte Story aus zwei Erzählperspektiven
Nelson gelingt in ihrem Roman eine clevere und am Ende lückenlose Erzählstruktur. Durch die beiden Erzählerperspektiven und die Ana- und Prolepsen auf der Ebene der erzählten Zeit ist Ich gebe dir die Sonne für Leser wie ein Kriminalroman, an dem sich die vielen offenen Fragen erst im Laufe der Handlung erklären, miteinander verbinden und zum Schluss ein erhellendes Gesamtbild ergeben.
Mit jedem Kapitel erfährt man etwas mehr über die Innensicht und die Beweggründe der beiden gleichberechtigten Hauptfiguren. Wo Noah und Jude zu Beginn noch sehr plakativ dargestellt werden, gewinnen sie Stück für Stück an Konturen hinzu. Beispielhaft können hier die Portraitnamen angeführt werden, mit denen Noah in Gedanken immer wieder seine eigenen Erlebnisse betitelt. Die erste so betitelte Szene heißt in Noahs Kopf „Der Junge, der sich mit dem Meer davonmachte“ (S. 11) und kommt ihm in den Sinn geschossen, als er von einem muskulösen Surfer zu Boden gedrückt wird, welcher ankündigt, ihn über eine hohe Klippe ins Meer zu stoßen. Im ersten Kapitel können diese gedanklichen Einschübe Noahs noch gekünstelt wirken, wie ein misslungenes erzählerisches Mittel, um seine Kreativität ohne jeden Zweifel auch den letzten Lesern mitzuteilen. Im Verlauf der Erzählung werden diese Gedankenbilder dann allerdings durch Noahs Sozialisation, seine Erlebnisse und sein Wesen begründet. Die Art, wie er die Welt um sich herum wahrnimmt, ist nicht einfach nur ein Manierismus, sondern unter anderem durch die Erziehung seiner Eltern und Großmutter und den Umgang mit seiner Schwester geprägt.
So wird im Verlauf des Romans ein glaubhaftes Bild zweier Jugendlicher gezeichnet: Beide haben ihre Launen, sind zickig, missgünstig, eifersüchtig, ängstlich, voller Selbstzweifel, sind zugleich aber auch kreativ, ausgeflippt, verknallt, albern und liebevoll. Die Figuren wirken innovativ und im besten Sinne eigenartig.
Ein Topping aus reinem Zuckerguss
Wie bereits angesprochen stecken die Leben von Noah und Jude randvoll mit besonderen Ereignissen. Ihre Mutter kommt ums Leben, ihre Zukunftspläne scheinen ins Wanken zu geraten und die Selbstwahrnehmung der beiden ist immens gestört. Ich gebe dir die Sonne konfrontiert seine beiden Hauptfiguren im Laufe des Romans mit einer ganzen Wagenladung voller typischer und ungewöhnlicher Probleme im Leben eines Teenagers, vom Liebeskummer über Selbstzweifel bis hin zum tragischen Verlust.
Im Kontext der kunstvoll ausgearbeiteten Handlung erscheint keines der Ereignisse unrealistisch oder unglaubwürdig, alles ist miteinander in Bezug gesetzt, schicksalhaft miteinander verknüpft. Nelson kreiert ein emotionales Jugendbuch, welches Gefühle auf allen Ebenen anspricht. Trotz all der durchaus gewaltigen Probleme schien es ihr wichtig gewesen zu sein, einen Feel-Good-Roman zu schreiben, welcher dem Zwillingspaar am Ende eines beschwerlichen Weges einen positiven Höhepunkt beschert. So wenig auch gegen ein Happyend in einem Jugendroman spricht, so sehr wird hier der glaubhafte Ton des Textes verwässert – oder besser gesagt: Mit Zuckerguss erstickt. Ohne hier Details der Handlung verraten zu wollen, kann mit Recht behauptet werden, dass sich zum Abschluss von Ich gebe dir die Sonne wirklich jedes Problem aller beteiligten Figuren gelöst hat: Missverständnisse werden aufgeklärt, Verstimmungen untereinander rückstandslos beseitigt, Beziehungen werden repariert und neu aufgenommen und alle Puzzleteile der miteinander verwobenen Ereignisse verbinden sich zu einem perfekten Gesamtbild.
Es wird viele Leser geben, die sich kein bisschen an diesem überglücklichen Ende stören werden und es gibt vielleicht auch keinen Grund, dies zu tun. Ich persönlich habe mir beim Schreiben dieser Rezension die Frage gestellt, warum ich das Ende nicht als solches akzeptieren und mich einfach für Noah und Jude freuen kann. Die Antwort darauf ist, dass ich das Gefühl hatte, dass diesen beiden Figuren ein Stück ihrer Glaubwürdigkeit genommen wird, wenn sie schließlich von allen Problemen reingewaschen sind. Sie sind am Ende perfekte Gemälde in sonnigen Farben, ohne einen Schatten auf der Leinwand. Dies drängt sie auf den letzten Seiten des Textes unnötigerweise ein Stück weit in die funktionale Rolle von Trägern des Happyends. Ein paar wenige offene Enden hätten dem Abschluss des Romans vielleicht geholfen, sowohl in Hinblick auf die Figurenzeichnung als auch in Hinblick auf die ganzheitliche Qualität des Textes.
Trotz dieser Kritik ist Nelsons Ich gebe dir die Sonne ein sehr gelungener Jugendroman. Der Text besticht durch eine feine und clevere Erzählkomposition, gut ausgearbeitete Figuren und eine kreative Sprache. Und dass das Ende manchen Lesern vielleicht etwas zu sehr nach Rosamunde Pilcher klingt, ist bei einer Gesamtlänge von stolzen 474 Seiten vielleicht auch verschmerzbar.
Literatur
Nelson, Jandy: Ich gebe dir die Sonne. Aus dem Englischen von Catrin Fischer. Random House: München 2016.