Ein Egoshooter mit Anspruch
Der folgende Artikel enthält zahlreiche SPOILER in Text und Bild und sollte daher nicht von Personen gelesen werden, die das Spiel noch unvoreingenommen spielen möchten. Das 2013 erschienene BioShock Infinite ist zweifellos einer der inhaltlich interessantesten und grafisch ansprechendsten Egoshooter der letzten Jahre. Der dritte Teil der Serie spielt zum ersten Mal in der fliegenden Stadt Columbia und nutzt zahlreiche historische Elemente der US-amerikanischen Geschichte, um eine futuristische alternative Realität des Jahres 1912 zu erschaffen. Spieler schlüpfen in die Haut von Booker DeWitt, einem zwielichtigen Privatdetektiv mit zu Beginn wenig personellem Hintergrund. Er hat den Auftrag, nach Columbia zu reisen und dort das ‘Mädchen’ zu finden und aus der Stadt zu bringen. Es wird schnell klar dass deren Gründungsvater und spiritueller Führer, Zachary Hale Comstock, etwas gegen die Entführung des Mädchens hat. Diese scheint für die Chronik von Columbia eine zentrale Rolle zu spielen und wird generell nur als das ‘Lamm’ bezeichnet. Zu allem Überfluss gibt es in der Geschichte der Stadt die Figur des ‘falschen Propheten’, welchem nachgesagt wird, das Lamm auf eine falsche Fährte führen zu wollen. Der Antagonist, so heißt es, wird als Erkennungszeichen ein ‘AD’ tragen, was dummerweise eine Narbe ist, welche Booker DeWitt gut sichtbar auf seiner rechten Hand trägt.
Diese kurze Zusammenfassung stellt die Ausgangslage dar, die Spielern in BioShock Infinite präsentiert wird. Über weitere Elemente der Handlung soll in diesem Artikel gar nicht gesprochen werden. Diese (vor allem das Ende des Spiels und seine Ergänzungen durch die Bonusepisoden) werden in zahlreichen guten Texten und Videos bereits zur Genüge diskutiert. Stattdessen soll hier der Frage nachgegangen werden, ob der Titel seinen Spielern eine gute Immersion ermöglicht.
Immersion beschreibt den Zustand der Bewusstseinsverschiebung weg von der eigenen Wahrnehmung hin zur Einfühlung in eine andere Figur, die sich in einem anderen Medium befindet. Immersion kann damit in Literatur, Film und natürlich auch Spiel auftreten. Computerspiele, so die gängige Meinung, eignen sich prinzipiell besonders gut für immersive Konzepte, da dort die spielenden Personen in die Rolle eines interaktiv steuerbaren Avatars schlüpfen können, der Bezug zur fremden Figur also erleichtert wird. Alltagssprachlich passiert Immersion immer dort, wo man alles um sich herum vergisst und sich in das Medium, mit dem man sich beschäftigt, eindenkt: Ob man nach dem Zuschlagen von Stephen Kings Der dunkle Turm irritiert in seinem Zimmer umherblickt, sich beim Schauen von Gravity in seinem Kinosessel festkrallt, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, oder man mit grimmiger Zufriedenheit dem Marshall im allerletzten Kapitel von Red Dead Redemption gegenübersteht. Jeder kennt Momente, in denen er ganz in einer Sache ‘drin’ war und alles darum herum ausblenden konnte.
Die Umgebung
Bei BioShock Infinite ist die Spielewelt der eigentliche Star. Columbia ist geradezu überwältigend schön und fantasievoll gestaltet, an jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Die fliegende Stadt über den Wolken wird dadurch glaubhaft zum Leben erweckt und trotz ihrer offensichtlichen Unmöglichkeit im Jahr 1912 zu einem vorstellbaren Ort. Dies gilt sowohl für die Außenbereiche von auf Ballons schwebenden Häuserblocks, welche durch Magnetschwebebahnen miteinander verbunden sind, als auch für die Innenbereiche, in denen etwa im War Memorial Museum und Finktons Fabrik großartige Szenerien auf engem Raum entworfen werden. Immer wieder überkommt einen so beim Spielen der Reiz, die Handlung Handlung sein zu lassen und einfach einmal die Gegend zu erkunden. Dieses Abweichen vom eigentlich linearen Weg wird oft sogar in der Form von Ausrüstungsgegenständen und profilverstärkenden Tränken belohnt.
Die Welt von Columbia ist an vielen Stellen in atemberaubender Weise inszeniert
So lebendig die Welt von Columbia auch ist, so tot scheint jedoch ein Großteil seiner Bewohner zu sein.. Die Straßen der Stadt sind, gerade zu Beginn der Handlung, zwar dicht bevölkert mit Personen, jedoch kommt bei ihnen selten das Gefühl auf, es mit wirklichen Menschen zu tun zu haben. Die Mechanik des Titels verfährt meist so, dass Spielfiguren einen kleinen Satz aufsagen, sobald man sich ihnen nähert. Manche Personengruppen führen so ein kleines Gespräch, einzelne Gestalten wirken unweigerlich, als würden sie zu sich selbst sprechen. Sollten sie den eigenen Spielavatar adressieren, machen sie sich jedenfalls nicht einmal die Mühe, diesen anzusehen, antworten kann man ihnen auch nicht. Ansonsten müssen die Bewohner der Wolkenstadt sehr ruhige und tiefenentspannte Zeitgenossen sein. Oft genug lassen sie sich zumindest nicht davon stören, dass man sich in ihrer Gegenwart stets mit der Waffe im Anschlag bewegt, oder der Körper des Avatars von entstellenden Mutationskrämpfen geschüttelt wird, welche Vigors, eine Art industriell gefertigter Zaubertrank, ihm bescheren. Die Reaktionen der NPCs hängen stark von der jeweiligen Spielzene ab. Wird eine Kampfsequenz eingeleitet, reagieren sie tatsächlich so, wie man auf den schwer bewaffneten und übernatürlich befähigten Antichristen reagieren sollte: Sie flüchten in Panik und geben die Fläche frei für bewaffnete Gegenspieler, derer man sich dann guten Gewissens entledigen kann. Steht allerdings keine Kampfsequenz an, interessiert es sie auch nicht, wenn man direkt vor ihrem Kopf mit einem potentiell sehr tödlichen Trommelmaschinengewehr herumhantiert.
In einem Egoshooter dieser Größe ist es schwierig, jeder nicht spielbaren Figur eine realistische und überzeugende KI zu verleihen. Personen, die keine Gegner darstellen, sind in der Regel nur Statisten und sorgen dafür, das Tableau mit etwas mehr Leben zu füllen. In Bezug auf Immersion haben sie allerdings in diesem Titel einen negativen Effekt. So greifbar sich auch die Umwelt des Avatars anfühlt, so sehr verwässert sich dieser Eindruck, wenn man mit den Sprechpuppen Columbias in Berührung kommt. Als Interaktionen kann man diese Begegnungen beim besten Willen nicht mehr bezeichnen.
Die Spielmechanik
BioShock Infinite ist in seiner Basis ein linearer Egoshooter. Der Avatar wird auf einem Weg ohne große Abzweigungen an der Handlung entlanggeführt, Story- und Kampfphasen wechseln sich miteinander ab. Die Storyphasen bringen die Geschichte voran, in ihnen werden neue Figuren und Gebiete eingeführt und Inhalte erläutert. Oftmals wird dem Spieler zu diesem Zweck die Handlungsfreiheit entzogen, Booker DeWitt steckt dann seine Waffe weg oder lässt sich gleich gar nicht mehr steuern, sondern wird automatisch durch eine Sequenz bewegt. Diese Phasen sind es, in denen sich die durchaus starke und gut durchdachte Geschichte des Titels ausbreitet. Treibende Kraft dabei sind die Ereignisse um die zu rettende Elizabeth. Ohne zu viel von der Geschichte verraten zu wollen, lässt sich feststellen, dass oftmals sie im Mittelpunkt der Videosequenzen und Handlungsstränge steht, während der eigene Avatar meist nur zum am Rande stehenden Zuschauer degradiert wird. Der Qualität der Handlung tut dies keinen Abbruch, der Immersion des Spiels allerdings schon.
Die Szenen, in denen der eigene Avatar nur lebloser Statist ist, machen oft den größten Eindruck.
In Kampfsequenzen steht Booker DeWitt ohne Frage im Zentrum des Geschehens. Man selbst wird zum typischen Beschützer. Elizabeth ist zwar gut darin, in Deckung zu gehen, greift aber höchstens unterstützend in den Kampf ein. Dies kann teilweise zu absurden Blüten führen, da dass Timing der Begleiterin nicht immer stimmt. So wirft sie einem im Kampf um Leben und Tod mit einem schwer gepanzerten Gegner ein Gewehr zu und kommentiert dies mit einem lauten: „Booker, catch!“ Fängt man die Waffe, dreht man sich automatisch direkt zu Elizabeth hin und ruft ihr meist noch einen aufmunternden Spruch wie „Perfect timing!“ zu. Generell sind diese Einlagen ein durchaus stimmungsvolles Mittel um einen steten Nachschub an Munition und Medikamenten zu rechtfertigen, jedoch haben sie ebenfalls das große Potential, immersive Momente zu zerstören. Es ist höchst fraglich, ob der mechanisierte Dampfcyborg direkt vor einem seine Schläge lange genug unterbrechen wird, das man sich gemütlich umdrehen und den Nachschub auffangen kann.
Wie der Titel seinen Helden mit Nachschub und Regeneration versorgt, ist generell einen genaueren Blick wert. Entgegen vieler neuerer Egoshooter verzichtet BioShock Infinite darauf, das Leben des Avatars nach einer kurzen Verschnaufpause automatisch wiederherzustellen. Stattdessen sucht sich Booker DeWitt seine Gesundheit aus so ziemlich allem zusammen, was er so finden kann. Neben klassischen Medipacks und salzigen Getränken, die ihm seine Vigor-Fähigkeiten aufladen, ist Columbia reichthaltig mit allerlei Köstlichkeiten bestückt: Von Wein und Zigaretten über Zuckerwatte, Cornflakes und Dosenfrüchten findet sich alles, was man sich vorstellen kann. Als Spieler ist man schnell damit beschäftigt, sich alles reinzuziehen, was so auf dem Weg liegt, da die Konsumgüter keinerlei Nachteile bringen. Diese an sich charmante Lösung, das Thema der Gesundheitsregeneration anzugehen, ist ein weiterer Sargnagel für den Immersionseffekt des Spiels. Nach einer Schießerei in einem Süßwarenladen müsste der Spielavater eigentlich erst einmal damit beschäftigt sein, sich ausführlich zu übergeben, hat er eben doch ungefähr drei Kilo Bonbons in sich hineingeschaufelt um seine Schusswunden wieder zu schließen. Doch nicht nur Booker scheint ein Freund von ausreichendem Proviant zu sein, auch sämtliche Gegenspieler sind immer gut bestückt, wie folgendes Bild eindrücklich zeigt:
Er starb für die Rebellion und mit einer frischen Ananas in der Tasche
Hier ist das Dilemma bezüglich der Immersion des Titels verdeutlicht: In einem sehr gut inszenierten Szenario, welches stellenweise bombastisch eskapistisch oder bedrückend sozialkritisch ist, möchte ein Widerstandskämpfer der unterdrückten Schichten dennoch nicht auf seine treue Ananas verzichten.
Der Held
Die Geschichte des Spiels ist spannend und durchaus komplex – Booker DeWitt ist das genaue Gegenteil davon. Angeheuert als typischer Ausputzer ist er verständlicherweise zu Beginn nicht am ‘Warum?’ seines Auftrags interessiert. Er hat Schulden zu begleichen und dadurch, dass Mädchen aus der Stadt zu holen, kann er dies tun. Schnell merkt er jedoch, dass dieser Job deutlich schwieriger ist, als er dachte. Nicht nur ist er in der Stadt als der falsche Prophet und damit Gegenspieler des Stadtgründers gebrandmarkt, er bekommt es auch nacheinander mit der Polizei, religiösen Fanatikern, verrückten Südstaatlern, Rebellen und nicht zuletzt einem turmhohen mechanischen Todesvogel zu tun. Zu allem Überfluss entpuppt sich die als typische ‘Jungfrau in Nöten’ eingeführte Elizabeth als eine Art übersinnliches Medium mit psychischen Kräften und einer gehörigen Portion Selbstvertrauen. Es gäbe für die eigene Spielfigur somit eigentlich genug Gründe, das anfängliche Desinteresse an den Vorgängen um sich herum abzulegen und zu hinterfragen, was zum Teufel eigentlich gerade passiert. Über große Teile des Spiels passiert dies jedoch nicht. Während die meisten Spieler wahrscheinlich einmal eine Pause machen und sich mit Elizabeth in die malerische Landschaft setzen würden, um sie etwas auszufragen, kommentiert DeWitt selbst die aufwühlendsten Ereignisse um sich herum mit einem Spruch wie: „I just have to finish this job!“
Die spannende und komplexe Story interessiert unsere Spielfigur meistens eher weniger
Wenn die Spielfigur, in die man sich hineinversetzen soll, kein Interesse an der Handlung der Geschichte hat, überträgt sich das im schlimmsten Fall auf die Spielenden hinter dem Avatar. Es werden widersprüchliche Signale gesendet: Elizabeth, Father Comstock, die Lutece Zwillinge, alle für die Geschichte wichtigen NPCs sind als spannende Figuren inszeniert, die etwas zu erzählen haben und diese Erzählung dem Spieler auch immer wieder vortragen. Spieler, repräsentiert durch ihren Avatar DeWitt, haben aber innerhalb der Spielwelt keine Möglichkeit, mit diesen Ereignissen zu interagieren. Viel mehr noch, die Spielfigur macht durch ihr Verhalten deutlich, dass diese Ereignisse nicht einmal interessant sind und man vielmehr bestrebt sein sollte, sich schneller durch die Gegnermassen hindurch zu schießen. Der Abschluss des intragdiegetischen Auftrags von DeWitt kann so schlimmstenfalls gleichgesetzt werden mit dem Abschluss des extradiegetischen Spiels. Entsteht der Eindruck, dass beides nicht schnell genug gehen kann, dann macht der Titel etwas entschieden falsch.
Fazit
Der aktuellste Teil der BioShock-Serie ist ein überdurchschnittlich gutes Spiel. Es macht sehr viele Dinge richtig und ist über weite Strecken sehr unterhaltsam. Gleichzeitig jedoch verschenkt es Unmengen an Möglichkeiten, gerade weil es so gut ist. Verzeihe ich es anderen Shootern ohne großes Nachdenken, dass ihre immersiven Qualitäten überschaubar bleiben, macht sich bei diesem Titel ein unbefriedigtes Gefühl breit. Die Welt von Columbia lädt zum Verweilen ein. Der Avatar des Spiels hat aber offenbar keine Lust darauf. Während des Spielens kam mir so oft der Gedanke, dass ich in dieser Umgebung gerne etwas anderes spielen würde: Ein storylastiges Rollenspiel mit Entscheidungsfreiheit und echten Dialogen, ein narrativ orientiertes Erzählspiel oder auch nur einen „Happy-people-of-Columbia“-Simulator. Ein schlauchiger Egoshooter mit Standardgameplay erschien mir an vielen Stellen wie die schlechteste aller möglichen Entscheidungen, eben weil es so viele Elemente gab, die verhinderten, dass ich wirklich in den Titel eintauchen konnte. Doch eben wegen der ganzen Liebe zum Detail wirkt es umso unverständlicher, wieso dem Aspekt der Immersion kein höherer Stellenwert zugeschrieben wurde. BioShock hätte es damit aufgrund seiner phantastischen und detaillierten Spielwelt leichter gehabt als andere. Es stellt sich damit die rhetorische Frage, wieso das Spiel so geworden ist, wie es ist. Ich möchte hier eine abschließende These in den Raum stellen: BioShock: Infinite ist ein Blockbuster, ein sogenanntes Triple-A Spiel. Genau wie im Film- oder Buchmarkt entstehen Hits heutzutage selten durch Zufall, sondern werden bereits im Vorfeld zu solchen gemacht. Und genau wie in den anderen Märkten, haben diese Hits häufig bestimmte bewährte Qualitäten mit Wiedererkennungswert. Bei Egoshootern wären diese etwa eine hervorragende Grafik, ein maskuliner Titelheld oder bestimmte Spielmechaniken wie Quicktimeevents und Covershooting. BioShock ist als Verkaufsschlager ebenso den Zwängen den Erwartungen des Marktes unterworfen, wie jeder andere Titel auch. Zuviel Varianz und experimentales Gameplay werden als Risiko für die Verkaufszahlen gesehen und könnten den Erfolg des Titels gefährden. Man merkt dem Spiel an, dass es Dinge anders machen möchte, dass es eben kein 0815-Egoshooter sein will. Doch eventuell war letztlich eben nur so viel möglich, wie wir als Spieler letztlich zu sehen bekommen, dieses stete Eintauchen und wieder Herausgezogen werden aus einer potentiell sehr immersiven Spielwelt. Zurück bleibt damit am Ende das Gefühl, einen sehr guten Egoshooter gespielt zu haben, der aber eben auch nicht mehr ist. Und das kann einem reichen, muss es aber auch nicht.
Medien
BioShock Infinte. 2K Games: 2013. Computerspiel.