Ursula Poznanskis Erebos
Als passionierter Gamer fällt es schwer, mit einem neutralen Blick an Ursula Poznanskis 2010 erschienen Thriller Erebos heranzugehen. Thema des Textes ist das titelgebende Computerspiel, welches als Piraten-Software in einer Schule von Hand zu Hand wandert. Jeder Spieler hat nur eine Chance, das Spiel zu spielen. Stirbt er, löscht es sich selbstständig und lässt sich nicht mehr installieren. Leben und Gedeih der Avatarfigur sind dabei nicht nur an das Geschick ihrer Spieler gebunden, sondern auch an deren Einhaltung des strengen Regelwerks. Im realen Leben muss Stillschweigen über Erebos bewahrt werden. Auch ist es unablässlich, den Autoritätsfiguren des Spiels, wie dem gelbäugigen Boten und seinen Schergen, Folge zu leisten. Diese stellen immer schwierigere Aufgaben, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Spielwelt. Das Spiel selbst, so wird im Laufe der Handlung deutlich, verfolgt dabei eigene Pläne, welche außerhalb der virtuellen Welt liegen. Seine Spieler sind dabei Erfüllungsgehilfen, wie unter anderen Nick, der Protagonist des Romans, immer klarer vor Augen geführt bekommt.
Das fiktive Spiel als spannende Lesewelt
Erebos ist ein Spiel, wie es in der gegenwärtigen Realität nicht existieren könnte. Viele seiner Inhalte sind technisch (noch) nicht möglich, oder im Rahmen eines Computerspiels einfach nicht sinnvoll. So hat das Spiel eine ausgesprochen realistische Grafik und eine kontextsensitive Steuerung, die aus einfachen Mausklicks praktisch jede vorstellbare Handlung machen kann. Auch bietet sich Spielern und Spielerinnen in Dialogen mit Non-Playable-Characters (NPCs) die Möglichkeit, freie Antworten zu schreiben und darauf auch noch sinnvolle Antworten zu erhalten. Auf Nicks Aussage, dass Tote für gewöhnlich nicht sprechen, antwortet ihm eine Spielfigur: „Da hast du rech. Das ist die Macht von Erebos.” (S. 39) Neben diesen technischen Meisterleistungen verfügt das Spiel scheinbar über die Fähigkeit, seine Spieler zu überwachen. Als Nick zu Spielbeginn einen falschen Namen eingeben will, überführt ihn die Software: „Thomas Martinson ist falsch. Wenn du spielen möchtest, nenne mir deinen Namen.” (S. 45) Die Erklärung, die der Text für dieses Phänomen liefert, wird in diesem Artikel an späterer Stelle noch genauer untersucht.
Diese Kritikpunkte können der Darstellung von Erebos als Computerspiel entgegengebracht werden. Sie sind jedoch nur zu einem Teil begründet, da bedacht werden muss, dass Erebos eben kein reales Spiel ist, sondern eine Fiktion, die innerhalb eines Romans funktionieren muss. Und in dieser Hinsicht funktioniert die Spielwelt ausgezeichnet: Über Erebos zu lesen, ist ausgesprochen spannend. Die Spielwelt wird auch durch die Einfühlung von Nick als Spieler zu einer funktionierenden Fantasywelt. Einer seiner ersten Kämpfe mit seinem Dunkelelfen-Avatar Sarius klingt dann so: „Sein Schwert prallt gegen die Haut des Trolls wie gerade noch gegen die Mauer, nur dass es diesmal nicht die kleinste Spur hinterlässt. Der Troll brüllt höhnisch. Er packt die Vampirin mit einer Hand und schleudert sie in die Luft. Sie rudert mit den Armen, verliert ihr Schwert und schlägt mit einem hässlichen Geräusch auf dem Boden auf.“ (S. 59) Als Leser taucht man in solchen Passagen schnell in die geschilderte Welt ein und vergisst, dass es sich dabei um die Beschreibung eines Computerpiels handelt. Auf der Ebene der Erzählung geht es Nick genauso, immer wieder wird beschrieben, wie er sich in Erinnerung rufen muss, nur an seinem Rechner zu sitzen. Konsequent werden seine Handlungen in Erebos stets seinem Avatar Sarius zugeschrieben: „Sarius atmet tief durch. Keine Verletzung, die er hier erleiden wird, kann ihm wirkliche Schmerzen bereiten, egal, wie echt sie aussieht.“ (S. 58) Interessanterweise wird hier ein Gedanke, den eigentlich nur Nick denken kann, seinem fiktiven Spielavatar Sarius zugeschrieben. Nur Nick wird durch die fiktionalen Ereignisse des Spiels nicht verletzt, da er sich außerhalb dessen Welt befindet. Sarius aber ist Teil der fiktiven Welt und kann somit auch in ihr verletzt werden und sterben. Ob gewollt oder nicht, kann man diese Stelle als eine Art schizophrene Überschneidung von Spieler und Spielfigur lesen. Aus stilistischer Sicht dient dies einem besseren Lesefluss. Aus Sicht der Handlung kann man hier bereits beobachten, wie das Spiel aus der virtuellen in die reale Welt überzugreifen beginnt.
Ein Ausblick auf das Social Gaming?
Wie bereits erwähnt, baut ein grundlegender Teil von Erebos darauf, seine Spieler und Spielerinnen Aufgaben in der realen Welt ausführen zu lassen. Eine der ersten Aufgaben ist überlicherweise, eine Kopie des Spiels anzufertigen und sie jemand anderem weiterzugeben. Beschrieben wird hier eine Form der Spieler-Akquise, wie sie heutzutage schon von anderen ‘Social-Games’ betrieben wird. Die (virtuelle) Einladung anderer Mitspieler ist dabei mit einem Bonus im eigenen Spiel verbunden, sei es schnellerer Fortschritt oder ein exklusiver Gegenstand.
Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass Spiele im Informationszeitalter Wissen über ihre oder Wissen mithilfe ihrer Spieler sammeln wollen. Spielen in sozialen Netzwerken kann die Erlaubnis erteilt werden, auf Kontakte zuzugreifen, um Einladungen zu verschicken. Googles Augmented-Reality-Spiel Ingress verlagert die Spielwelt nach außen und lässt Spieler reale Sehenswürdigkeiten per GPS-Navigation ansteuern, um dort auf der fiktionalen Ebene des virtuellen Spiels Portale zu eröffnen. Der Gewinn für das Unternehmen liegt dabei in unzähligen Bewegungsprofilen der Spielgemeinschaft.
Unter diesen Gesichtspunkten enthält Poznanskis Roman viele kluge Ideen zu einer möglichen Zukunft des Social Gaming, verpackt in der dystopischen Variante eines Überwachungsspiels. Erebos kontrolliert seine Spieler mithilfe der kompletten Spielgemeinschaft. Es wird eine geheime Interaktion zwischen den Mitgliedern geschaffen, indem eine künstliche Intelligenz ein immer dichter werdendes Netzwerk aus Aufgaben erschafft. Bekommt Nick den Auftrag, eine Kiste von einem Ort zum anderen zu transportieren, dann bekommt mindestens ein Mitspieler die Weisung, ihn dabei zu beobachten und dem Boten im Spiel davon zu berichten. Die Angst davor, endgültig aus dem Spiel geworfen zu werden, führt zu einem Stillschweigen der Spieler. Bis zum Schluss bekommt kaum jemand mit, dass das Programm seine Mitglieder gegeneinander ausspielt und letztlich dazu bringt, seinen Plan zu erfüllen. Dieser soll hier natürlich nicht verraten werden.
Computersucht im Zeitraffer
Erebos bindet seine Spieler durch eine technisch brilliante Welt und die ansteigenden Herausforderungen, die natürlich auch mit immer größeren Belohnungen verbunden sind. Ziel in der virtuellen Welt ist es, dem inneren Kreis anzugehören, einer Gruppe der besten Spieler, die eine besondere Ausbildung erhalten, um am Ende eine vom Spiel nicht näher ausgeführte große Schlacht zu bestreiten. Das eh schon fordernde Spielprinzip wird durch seine strikten Regeln und seinen Zwang zur Geheimhaltung noch verstärkt. Da es nicht möglich ist, sich außerhalb von Erebos über das Spiel zu unterhalten, findet kein Austausch statt. Spieler und Spielerinnen rätseln so zusätzlich, welche Mitschüler sich hinter den anderen Avataren vestecken könnten und wer welche Abenteuer im Spiel erlebt. Dass man beim Tod seiner Figur vom Spiel ausgeschlossen wird, sorgt zusätzlich dafür, sich auf Erebos einzulassen und ihm die gewünschte Aufmerksamkeit zu schenken.
Ohne Frage, Erebos bietet viele Möglichkeiten, süchtig zu werden. Es provoziert es sogar. Und dennoch muss die Art und Weise, in der die Jugendlichen dem Spiel verfallen, kritisch betrachtet werden. Der Leser erfährt exemplarisch für einen ‘normalen’ Verlauf der Suchterkrankung Nick Dunmores Auseinandersetzung mit Erebos. Schon nach seiner ersten langen Spielsitzung, die nicht von ihm, sondern vom Spiel beendet wird, scheint er das Interesse an anderen Dingen verloren zu haben: „Dann würde er eben doch schlafen gehen. Oder Emilys Seite noch einen kurzen Besuch abstatten? Nein, dazu war er einfach nicht in der Stimmung. Nicht entspannt genug. Nicht romantisch genug. Nicht neugierig genug.“ (S. 84) Nach einer durchgespielten Nacht ist dieses Desinteresse durchaus verständlich, wenn auch meist von nicht allzu langer Dauer. Nick, so kriegt der Leser schnell verständlich gemacht, ist dem Spiel allerdings schon jetzt vollkommen verfallen. In den folgenden Tagen schwänzt er die Schule und beginnt, erste Aufträge außerhalb der Spielwelt zu erfüllen, um seinen Zugang zum Spiel nicht zu verlieren. Kann er nicht spielen, ist seine Laune am Boden, er kann sich auf nichts anderes konzentrieren. Nach wenigen Tagen verspürt er selbst grundlegendste Bedürfnisse nicht mehr: „Nicks Augen brannten, als wäre er stundenlang in Chlorwasser geschwommen. […] Erst jetzt bemerkte er, wie dringend er musste und wie verdreht er auf seinem Stuhl saß, um den Druck seiner Blase erträglich zu halten. Na los, geh schon. Aber erst musste er das Programm beenden.“ (S. 184f)
So wie Nick richten scheinbar auch alle anderen Spieler und Spielerinnen ihren Alltag auf Erebos aus. Die Klassenzimmer sind leer, die anwesenden Schüler übernächtigt und schlechter Laune. Den Fragen des skeptisch gewordenen Lehrers antwortet niemand, aus Angst, aus dem Spiel geworfen zu werden. Zusammenfassend kann man festhaltend, dass die Jugendlichen sich wie Junkies benehmen, die alles dafür tun, um nicht von der Quelle ihrer Sucht abgeschnitten zu werden. Verliert jemand seinen Zugang zu Erebos, wird er alles dafür tun, um ihn wieder zu erlangen. Dies wird am Beispiel Gregs gezeigt, welcher so lange bei seinen Mitschülern bettelt bis das Spiel scheinbar jemandem den Befehl gibt, ihn zusammenzuschlagen. Greg behauptet daraufhin, eine Rolltreppe herab gefallen zu sein (S. 274).
Realitätsverlust
Wem diese ‘Aufgabe’ schon fraglich vorkommt, der sollte das Lategame von Erebos besser nie erreichen. Denn für die großen Belohnungen bedarf es auch großer Überwindungen. Im Fall von Nick bedeutet dass, seinem misstrauischen Lehrer Mr. Watson eine Überdosis Tabletten in den Tee zu schmuggeln. Im letzten Moment überwiegen die Skrupel und er erfüllt den Auftrag nicht, fliegt zur Strafe aus dem Spiel. Völlig frustriert überdenkt Nick seine Situation: „Bereute er, dass er die Gelegenheit nicht genutzt hatte? Ja, verdammt noch mal. Ja. Was war Mr. Watson schon gegen Sarius?“ (S. 302) Innerhalb einer knappen Woche an Spielzeit wiegt der Wert von Nicks Avatar bereits höher als der eines realen Menschen. Auf dieses Ergebnis kommen auch viele andere Spieler. Fahrradbremsen werden gelöst, woraufhin der Radler beinahe tödlich verunglückt. Unliebsame Spieler werden wie erwähnt bedroht, psychisch gemobbt oder tatsächlich körperlich verletzt. Nick, der kurze Zeit nach seinem erzwungenen Ausscheiden einer Art Widerstandsgruppe gegen das Spiel beitritt, soll kurzerhand vor eine U-Bahn geschubst werden. Der Anschlag wird ausgeführt und misslingt nur knapp. Die Spieler und Spielerinnen des inneren Kreises führen zuletzt derart unglaubliche Aufgaben in der wirklich Welt aus, dass ihr Realitätsverlust bereits extrem weit fortgeschritten sein muss.
In diesem Verhalten der Jugendlichen liegt das Kernproblem der Erzählung. Die Spielgemeinschaft von Erebos verwandelt sich in kürzester Zeit in eine Gruppe von hirnlosen Zombies, die keinerlei Verbindung zu ihrem weltlichen Alltag zu haben scheint. Konsequenzen in der wirklichen Welt werden entweder vollkommen ausgeblendet, oder als verhältnismäßig im Vergleich zum Gewinn in der virtuellen Welt bewertet. Der gesamte Roman präsentiert nur wenige Figuren, die dem Spiel skeptisch gegenüberstehen. Von diesen rühren einige das Spiel gar nicht erst an, kommen also nicht in den Radius der Suchtwirkung. Selbst die Personen der Widerstandsgruppe zeigen, wie sehr ihnen das Spiel gefällt und müssen sich gegenseitig helfen, eine kritische Distanz zu bewahren. Auch Nick, der dem Spiel zum Ende hin ablehnend gegenüber steht, ist während seiner Spielzeit dem Programm vollkommen verfallen.
Das Verhalten der Jugendlichen kann man höchstwahrscheinlich genauso wie das fragwürdige Design des Spiels über die Notwendigkeit einer spannenden Erzählung begründen. Würden sich die Spieler und Spielerinnen nicht mit Haut und Haaren auf Erebos einlassen, könnte die Handlung nicht zu ihrem spannenden Finale geführt werden. Anders als in der Schilderung des Computerspiels wäre es jedoch ein Fehler, über das unglaubhafte Verhalten der Figuren einfach hinwegzusehen. Die Lehre des Romans ist nicht nur, dass Computerspiele das Potential haben, ihre Spieler stark zu beeinflussen, sondern eben auch, dass Computerspieler dieser Beeinflussung nicht das Geringste an eigener geistiger Stärke oder Medienkompetenz entgegenzusetzen haben. Die große Mehrheit der Spieler wird durch Erebos dazu gebracht, in kürzester Zeit jegliche Verhältnismäßigkeit und jeden Bezug zur Realität zu verlieren. Gesetze und Konsequenzen der wirklichen Welt interessieren nicht mehr, nur noch das Regelwerk der virtuellen Welt zählt.
Verklärende Jugendbilder
Eine Aufarbeitung findet nach Abschluss der Haupthandlung zwar durch ein Treffen vieler Erebos-Spieler statt, jedoch wirkt auch diese Szene wenig dazu geeignet, die Selbstreflexivität der Figuren darzustellen: „Es war, als würden Dämme brechen. Nick versuchte, auf einer Reihenfolge bei den Wortmeldungen zu bestehen, aber schon bald redeten alle durcheinander. Jeder wollte seine Geschichte erzählen und herausfinden, wer hinter den Kriegern steckte, mit denen er während des Spiels zu tun gehabt hatte.“ (S. 472)
Konsequenzen für die Spieler gibt es keine, nur die verschiedenen Aufgaben sollen gesammelt und irgendwie wieder gerade gebogen werden, so es sich denn um Mobbing oder Rufschädigungen gehandelt hat. Jugendliche Computerspieler, so wirkt es, können als unzurechnungsfähig eingestuft werden. Ihre leichte Verführbarkeit wird nicht hinterfragt, sondern in einer Art romantischer Verklärung vorausgesetzt. Am Ende dürfen sie sich von all den schlimmen Ereignissen befreien, ohne sich tiefergehend mit diesen auseinander gesetzt zu haben. Trotz aller interessanter Ansätze kann Erebos letztlich darauf heruntergebrochen werden, dass Kinder und Jugendliche vor allem am spielerischen Aspekt interessiert sind und sich wenig bis gar keine Gedanken über die Tragweite ihrer Handlungen machen. Computerspiele (und sicher auch andere Medien), die diese scheinbar angeborene Naivität ausnutzen, sind das wahre Problem und werden in der Erzählung symbolisch dadurch beseitigt, dass sich die Software nach Beendigung ihres Hauptziels selbst löscht. Für einen Roman aus dem Jahr 2010, der sich mit neuen Medien und ihren Akteuren beschäftigt, ist dies definitiv zu wenig.
Literatur
Poznanski, Ursula: Erebos. Bindlach: Loewe 2010.