Adaptionen klassischer Literatur als moderne Webserien haben sich in den letzten Jahren zu einem sehr erfolgreichen Format entwickelt. Der Vlog, also Video-Blog, hat sich als hervorragendes Medium bewiesen, um vor allem bekannte Texte der Literaturgeschichte kreativ und modernisiert aufzugreifen. Dieser Artikel widmet sich dieser neuen medialen Ausprägung mit einer kurzen Zusammenfassung, um die Hintergründe und Vorzüge dieses Mediums aufzuzeigen.
Vlogs dieser Art funktionieren gerade für ein junges Publikum, da sie den ausgewählten Stoff kurz, knackig und unter Verwendung von eingebetteten Verweisen auf aktuelle Technik und Medien umsetzen.
Es ist charakteristisch für die Webserien, dass sie in verschiedenen Formen den Austausch von Zuschauern und Beteiligten über Social Media fördern, bspw. über Twitter, Facebook, Tumblr, Pinterest, LinkedIn und LOOKBOOK. So kann die technisch versierte Zuschauerschaft, meist Jugendliche, direkt mit den Machern der Adaptionen interagieren. Die Webserien erreichen so noch viel mehr als das Interesse an den Texten, sie binden die Zuschauer auf zahlreichen Ebenen mit ein.
Die intendierte Zuschauerschaft sind Jugendliche und junge Erwachsene, nach oben hin sind aber keine Grenzen offen. Die (normalerweise ca. 3 – 8 Minuten langen) Episoden können von jedem geschaut werden, der YouTube bedienen kann, aktiv wurden bisher vor allem die Fans von ca. 13 – 25 Jahren.
Für Kinder sind die Vlogs nicht direkt intendiert. Es wurde bisher offenbar auch kein Stoff speziell aufbereitet, der gezielt ein kindliches Publikum adressiert. Vorstellbar ist auch, dass bereits die technische Hürde zu hoch für die meisten Eltern liegt – in diesem Zusammenhang ist auch der nicht allzu hohe Bekanntheitsgrad der Webserien außerhalb von Social Media und Youtube zu nennen. Die Kenntnis derselben hängt direkt mit einem ausreichenden technischem Verständnis und einem Wissen über aktuelle Medien zusammen.
Hierzu sei gesagt, dass es mindestens drei individuelle Arten gibt, die Webserien medial zu konsumieren. Dabei erinnern diese auch wieder an das ursprüngliche Leseerlebnis, das den Vlogs mit den Vorlagen zu Grunde liegt. In diesem Punkt gleicht sich der Konsum der beiden Medienformen:
- Man verfolgt die Serien ‘live’, d.h. zwischen jeder der ca. fünfminütigen Episoden liegen immer 2 – 3 lange Tage, bis endlich die nächste Folge kommt. Hier ist man gezwungen zu warten – man entwickelt seine eigenen Gedanken und Theorien, wie es weitergehen könnte. [Zitat aus dem Commentsbereich zu The Lizzie Bennet Diaries von ‘Shelley S’: “I remember being too excited about the next episode like an actual soap opera!”]
- Binge-Watching’, d.h. man schaut die Serien, sobald sie beendet sind – oftmals am Stück, da man die Geschichte als Ganzes genießen möchte, ohne Pausen und Cliffhanger zwischendurch. [Zitat aus dem Commentsbereich zu The Lizzie Bennet Diaries von ‘ThePointlessGamer’: “well I just watched all 100 episodes in one day. its quarter to 5 in the morning and i have no regrets”]
- Eine Kombination von 1 & 2, gerade wenn man erst spät in eine Serie einsteigt und erst einmal ‘aufholen’ muss, um dann auf die nächsten Folgen zu warten. [Zitat aus dem Commentsbereich zu Emma Approved von ‘Carmen Mc’: “I love watching this and knowing that there is still so much Emma plot to come!”]
Kommunikation und Interaktion
Beim Zusehen und Interagieren mit den Webserien entwickeln die Fans nicht nur ein Interesse an der Geschichte oder der Sprache, sondern lebhafte Gefühle – sie leiden und freuen sich mit den Figuren (oft geäußert durch Kommentare wie ‚all the feels!‘) mit. Es wird gerade bei noch aktiven Serien stets sehr rege über Aussagen und Entscheidungen der Figuren diskutiert. Hier berufen sich die Textkenner durchaus auch auf zukünftige Ereignisse, um das Geschehen vor diesem einzuordnen und ggf. auf inszenierte Vorahnungen hinzuweisen. Ferner spielt auch der Humor in der Fanszene eine ganz große Rolle, sodass besonders witzige und treffende Kommentare mit hunderten positiven Bewertungen belohnt werden.
Interessant ist auch, dass virtuell immer das sogenannte Fandom, der harte Kern der Fans, dazu befragt werden kann, wie etwas in der Adaption gemeint ist. Wenn jemandem eine Anspielung auffällt, er oder sie diese aber nicht richtig versteht, erscheint oft innerhalb von Minuten die geduldige Erklärung mindestens eines anderen Fans, der das Buch gelesen hat und die Referenz erklärt. Hier findet eine Interaktion ähnlich der in der Schule statt, nur mit dem Unterschied, dass sie hier auf Peer-to-Peer-Ebene stattfindet.
Verwandt mit diesem Punkt ist natürlich auch das Thema Spoiler – in der Regel sind unter den Fans der Webserien keine Trolle zu finden, da es sich eher um ein Gruppengefüge handelt, das ernsthaft diskutiert. Wenn dabei einmal etwas vorweggenommen wird, entspinnt sich in der Regel automatisch eine parallele Diskussion darüber, ob man jahrhunderte alte Bücher überhaupt noch spoilern kann. Dies wird von den meisten Zuschauern verneint.
Es erfolgt bei den literaturbasierten Webserien durchweg keine ‘einseitige Kommunikation’, sondern immer eine Interaktion zwischen den Zuschauern, Produzenten, Autoren und auch den Schauspielern.
Nicht nur die Texter, sondern eben auch die durch das Format sehr präsenten Schauspieler sind wegweisend für den Erfolg der Serie. Hegt z.B. jemand Antipathien gegen den Darsteller der Hauptfigur, ist es auch unwahrscheinlich, dass er am weiteren Fortgang der Serie teilnimmt. Livechats mit den Darstellern hingegen sorgen dafür, dass sich die Fans auch für die Schauspieler hinter den Figuren und ihre Karrieren interessieren. Die Serien dienen diesen oftmals als nicht zu verachtendes berufliches Sprungbrett, mit dem sie schlagartig hunderttausende von Zuschauern erreichen. Dementsprechend verfolgen viele auch weitere Projekte ihrer Lieblingsdarsteller – vor allem natürlich im Netz. Auch wird seitens des Twitter-Accounts oft auf weitere Anschlussprojekte der Beteiligten hingewiesen, sodass wiederum ein anschließendes Verfolgen seitens der Fans möglich wird. Die Schauspieler selbst greifen diese interaktiven Chancen sehr interessiert auf, ihre Begeisterung für diese neue Kunstform und die Möglichkeit zum direkten Austausch mit ihrem Publikum wirkt durchweg authentisch.
Diese Form der Interaktion kann selbstverständlich auch als eine Art Rollenspiel seitens der Zuschauer mit den Machern und Darstellern ausgelebt werden – insbesondere, wenn auf einer Metaebene die fiktive Welt der Webserien in die reale Welt der sozialen Medien zurück übertragen wird und somit in denselben auch die Figuren den realen Charakteren zugeschrieben werden.
Zu den Webserien werden auch Videos von Outtakes etc. veröffentlicht, die auch langfristig noch Reaktionen hervorrufen – etwa ein halbes Jahr nach Beendigung der Serie, da das Interesse der Fans durch die hohe Bindung immer noch gegeben ist.
Der Einsatz der Kamera wird in den Serien oftmals in einer anfänglichen Episode kurz thematisiert und in die Geschichte eingebettet, beispielsweise als Studienprojekt oder wissenschaftliche Dokumentationsweise. Dies geschieht häufig in der ersten Episode, in der die Hauptfigur sich und ihr Videoprojekt vorstellt und in ihre Welt einbettet. Durch diese Verortung der vermeintlichen Dokumentation in die dargestellte Welt erklärt sich der direkte Medieneinsatz der Vlogs. Hierdurch wirken sie nicht etwa aufgrund einer künstlichen Distanz zum Zuschauer fremd oder unrealistisch.
Beispiele für eine Begründung von Vlogs sind etwa: ein Studienprojekt für einen Medienstudiengang [Lizzie Bennet Diaries], eine wissenschaftliche Dokumentation des Forschungsprojektes [Frankenstein M.D.], ein Testlauf einer neuartigen IT-Anwendung [Welcome to Sanditon] oder als Praxis für die Aufnahme an der Filmschule [Notes by Christine].
Pädagogischer Nutzen und Zuschauerbildung
Für die Zuschauerschaft gibt es betreffs der Kenntnis der Originalliteratur Vor- und Nachteile. Zum einen ist es sicher interessant, wenn man die kleinen Anspielungen und subtilen Äußerungen richtig zuordnen kann und immer den Vergleich zum Original hat. Es kann aber ebenso reizvoll sein, sich komplett überraschen zu lassen und die Webserien als eigenständige Geschichten wahrzunehmen.
Zahllose Fans schreiben, dass sie erst durch die modernisierten Webserien überhaupt zum Lesen der vermeintlich verstaubten und überholten Literatur gekommen sind. [Zitat aus dem Commentsbereich zu The Autobiography of Jane Eyre, von ‘Chloe S.’: “Just wanted to say that this web series has made me start reading the actual original book itself- and I’ve never read a classic for fun before.”] Diese neue bzw. erneuerte Popularität der Texte zeigt, dass das Interesse an den ausgewählten Texten (und gleichbedeutend damit sicherlich auch die Auflagen) allein durch originelle Umsetzungen im Internet deutlich gesteigert werden kann.
Wiederholt findet sich in den Kommentaren auch der Hinweis einiger Fans, dass sie die ursprünglichen Medien bereits aus der Schule kennen, vielleicht sogar gerade behandeln, aber erst jetzt wirklich einen Zugang zu den Büchern gefunden haben. Teilweise funktioniert die Webserie dabei als eine regelrechte Nachhilfe, da die jugendlichen Zuschauer anschließend in der Schule über ein Mehrwissen verfügen und daher besser mitreden können bzw. bessere Noten bekommen (Exkurs: Siehe hierzu auch John Greens Crash Course & das originelle Thug Notes, wo in Kurzvideos Literaturklassiker erklärt werden).
Natürlich ergeben sich durch die Adaptionen durchaus auch Änderungen zu den Vorlagen, sodass sie wohl eher als Motivationshilfe denn als Erläuterung herangezogen werden sollten. Die Vermittlung des richtigen Umgangs mit Adaptionen und Texthilfen wäre im traditionellen Unterricht eine zentrale Aufgabe der Lehrkraft.
Häufig wird daneben noch von nicht-englisch-sprachigen Fans in den Kommentaren geäußert, dass sie für oder durch die Webserie besonders stark zum Englisch lernen motiviert wurden (besonders mithilfe der Untertitel). Daher kann durch die Vlogs auch eine Motivation zum freiwilligen Lernen der Sprache nahe gelegt werden. Dieser positive Aspekt kann sicherlich durch die Einbindung der Webserien ebenfalls im Schulunterricht genutzt werden, da die allermeisten Webserien bisher englischsprachig sind.
Das Finanzierungsmodell der Webserien soll hier nur kurz angerissen werden: das Konzept der Vlogs auf Youtube geht oft Hand in Hand mit einer Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter – dort wird im Anschluss an die Serie oftmals noch eine DVD-Box (plus Outtakes etc.) finanziert, obwohl die Videos nach wie vor online sind. Vielen Fans ist es allerdings ein Bedürfnis, die Webserie auch offline zu besitzen, da sie sich als Teil des hierdurch Erlebten sehen.
Insofern sind diese Adaptionen mittlerweile mindestens gleichwertig mit traditionelleren Medien wie Fernsehserien und Filmen, wenn nicht sogar in manchen Aspekten überlegen.
Die Webserien repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine moderne und technikversierte Jugend, die ihre Unterhaltungsmedien auch im Internet sucht. Dabei werden sie aber von einer Vermischung dieses neuen Formats mit tradierten Texten nicht abgeschreckt – im Gegenteil, es handelt sich bei den Webserien um ein sehr spannendes, innovatives und in seiner Kreativität noch lange nicht erschöpftes neues Jugendmedium, das sehr gut angenommen wird.
Ausblick: Dem obigen Artikel wird auf diesem Blog bald ein weiterer Teil folgen, der sich speziell den Webserien der Produktionsfirma Pemberley Digital widmet.
Eine Auswahl literaturbasierter Web-Adaptionen [mit der jeweiligen Vorlage]
A Tell Tale Vlog – [Inspiriert von Edgar Allen Poes Leben]
Carmilla – [Sheridan Le Fanu: Carmilla (1872)]
Classic Alice – [Fyodor Dostoyevsky: Crime and Punishment (1866)]
Emma Approved – [Jane Austen: Emma (1815)]
Emma Woodhouse – [Jane Austen: Emma (1815)]
Frankenstein M.D. – [Mary Shelley: Frankenstein or The Modern Prometheus (1818)]
Green Gables Fables – [Anne of Green Gables (1908)]
Grimm Reflections – [Grimms Märchen (1812)]
Jules And Monty – [Shakespeare: Romeo and Juliet (1597)]
Kate The Cursed – [Shakespeare: The Taming of the Shrew (1590/1592)]
Lizzie Bennet Diaries – [Jane Austen: Pride and Prejudice (1813)]
Notes by Christine – [Gaston Leroux: Le Fantôme de l’Opéra (1910)]
Nothing Much To Do – [Shakespeare: Much Ado about Nothing (1598/1599)]
The Autobiography of Jane Eyre – [Charlotte Bronte: Jane Eyre (1847)]
The Jo March Vlog – [Louisa May Alcott: Little Women (1868/1869)]
The March Family Letters – [Louisa May Alcott: Little Women (1868/1869)]
The New Adventures of Peter and Wendy – [J.M. Barrie: Peter Pan, or The Boy Who Wouldn’t Grow Up (1904/1911)]
The Nick Carraway Chronicles – [The Great Gatsby (1925)]
University Ever After – [Grimms Märchen (1812)]
Welcome to Sanditon – [Jane Austen: Sanditon (1817)]