Massenhaft

Massenhaft

Am 11.5.2015 war die Autorin Christa Ludwig im Rahmen eines Seminars zu ‘Animal Studies und Kinder- und Jugendliteratur’  an der Universität Siegen zu Gast. Unter der Leitung von Elisabeth Hollerweger stellte sich die Autorin den Fragen der Lehramtsstudierenden, um gemeinsam das didaktische Potential ihres Romans Massenhaft (2013; EA unter dem Titel: Die Federtoten (1997)) zu diskutieren und zu überlegen, wie man diesen im Literaturunterricht besprechen kann. Massenhaft ist eines der wenigen Jugendbücher, das sich programmatisch dem Thema Massentierhaltung annimmt. Erzählt wird aus verschiedenen Sichtweisen, die die ambivalenten Facetten aller Beteiligten ausleuchten. Im Zentrum stehen die drei jugendliche Protagonisten – Julia, Florian und Micha -, die die kritischen Bedingungen in einem Hühnerzuchtstall in ihrem Ort aufdecken. Dieser Betrieb gehört jedoch ausgerechnet Julias Vater, dessen differenzierte Facetten vom Text ebenso aufgegriffen werden wie Julias moralisches Dilemma. Der Vater ist nicht nur geldgieriger Unternehmer sondern kümmert sich auch liebevoll um seine Tochter. Massenhaft wagt den Versuch, ein drängendes gesellschaftliches Streitthema in den Blick zu nehmen und auch die literarische Konstruktion ist dabei durchaus interessant. Denn die Perspektiven der einzelnen Protagonisten geben Einblicke in deren Beweggründe und zeichnen so ein differenziertes Bild nach. Eine weitere ungewöhnliche – und gleichzeitig eine der eindringlichsten Erzählstimmen des Romans – schildert den Alltag eines der Küken im Stall. Dessen Entindividualisierung tritt bereits in seinem Namen „Es“ offen zu Tage und führt diese Distanz auch in der externen Fokalisierung fort: schonungslos verfolgen wir seinen Weg vom Schlüpfen, über die grausamen Mastbedingungen im Stall bis zum  Tod in der Fleischfabrik. Insbesondere diese Episoden zeigen erschreckend offen die Zustände der Massentierhaltung und sollten diesen Text zum Gegenstand kritischer Betrachtungen werden lassen. Darüber hinaus verschalten sich die fiktionalen Passagen der jeweiligen Figuren mit faktualen Einschüben, die im Stile eines Lexikons Informationen einbetten. Diese verfolgen jedoch ein eindeutiges Ziel und lassen einen pädagogischen Impetus stets spüren: die Sachtextfragmente wollen ein spezifisches Wissen vermitteln.

Diskussionsergebnisse

Einführend stellte die Autorin zunächst ihre Beweggründe für ihre Arbeit an einem Roman zu diesem Thema vor und betonte, dass am Beginn ihrer Recherche (1995) Massentierhaltung keinen Platz in den öffentlichen Medien einnahm. Wie die Autorin zeigte, mussten die wenigen Bücher, die es zum Thema gab, teilweise von Verlagen zensiert werden und die Recherchemöglichkeiten des Internets standen noch nicht zur Verfügung. Ihr Anliegen, für ein Thema zu sensibilisieren, merkt man dem Buch deutlich an. Auch betonte Christa Ludwig immer wieder, dass ihr diese Wissensvermittlung sehr am Herzen liegt und lag. Die Studierenden aus dem Lehramtstudiengang wandten sich mit vielen Fragen an die Autorin, beispielsweise über ihre Änderungsprozesse im Zuge der Neuauflage, die schwierige Recherche und ob sie selber schon einmal in einem Massentierstall war. Davon ausgehend entwickelte sich außerdem eine rege Diskussion darüber, ob und wie man den Roman auch für den Deutschunterricht einsetzen kann. Denn mittlerweile wurde die erste Fassung unter neuem Titel im Taschenbuch (Die Federtoten wurde zu Massenhaft) nicht nur wieder aufgelegt, sondern hat auch einige Überarbeitungen erfahren: die gewandelte Mediennutzung und andere Bezüge zur Gegenwart wurden angepasst und betten den Roman näher in die Lebenswelt der Schüler ein.

Die Diskussion zielte dabei vor allem auf die inhaltlichen Aspekte ab: das Buch ist stark affektiv codiert und hat ganz offensichtlich viele der Anwesenden beeindruckt. So kamen in der Diskussion seitens der Studierenden starke Argumente, die die Relevanz des Themas deutlich machten. Kritisch beäugt wurde hingegen der ‘literarische Wert’ des Textes – eine Frage, die mit sehr normativen Vorstellungen davon, was Hochliteratur sei, geführt wurde. Überraschenderweise auch von der Autorin selber, die nach eigener Aussage keinen literarischen Text habe schreiben wollen. Meiner Ansicht nach kann man dem Text sicherlich einige Schwächen ankreiden, aber insbesondere für den Literaturunterricht kann dieser Roman vor allem auf die Perspektivwechsel hin untersucht werden; ebenso ergiebig ist das Changieren zwischen fiktionalem und faktualem Text, bzw. die Hybridisierung der beiden Erzählebenen, die zum Schluss in einer spannungsgeladenen Dramaturgie immer stärker eng geführt werden. Denn die Abschnitte der jeweiligen Passagen werden immer kürzer, greifen teilweise die Satzenden wieder auf und verbinden sich. Der literarische Text wird dann eben nicht nur als Vehikel für einen Wissenstransfer eingesetzt, sondern auch als ästhetisches Konstrukt untersucht, das mit spezifischen Strategien arbeitet und im Deutschunterricht fruchtbarer Gegenstand sein kann. Gemeinsam konnte sich darauf geeinigt werden, dass diese politischen Streitfragen und Diskurse sich gut für einen fächerübergreifenden Unterricht anbieten, in dem der Deutschunterricht die spezifische erzählerische und ästhetische Konstruktion reflektieren könnte.

Ebenso überraschend war der Streitpunkt, ob und in welchem Alter dieses Thema Kindern „zugemutet“ werden kann. Christa Ludwig berichtete aus ihren Erfahrungen mit Lesungen an Schulen und obwohl sie selber zunächst Bedenken hatte, sind bereits Siebtklässler mit dem Thema reflektiert umgegangen. Entscheidend sind nicht die Vorstellungen, die Erwachsene davon haben, was Kinder verstehen können, sondern dass man diese Themen entsprechend didaktisch vor- und nachbereitet. Eine zentrale Kompetenz, die angehende Deutschlehrer brauchen und hoffentlich im Rahmen des Gesprächs dafür sensibilisiert wurden.

Christa Ludwig berichtetet außerdem von ihren Schwierigkeiten im literarischen Feld des Vertriebs und gab interessante Einblicke in die Abläufe dieser Prozesse: kaum ein Verlag wollte das Buch in das Programm aufnehmen, und wenn nur mit einem entschärften Titel oder Cover. Sie betonte die Alleinstellung, die der Roman einnimmt und erklärte diesen Umstand recht plausibel: der Leser fühlt sich ab einem gewissen Grad selber als Täter, da jeder der Fleisch isst, zwar gerne so tut als ob er nichts von Massentierhaltung wüsste – es aber eigentlich wissen könnte. So wurden die 90 Minuten des Seminars zum anregenden Austausch zwischen Autorin und Studierenden, die hoffentlich in gute Unterrichtsideen münden.

Literatur

Christa Ludwig (2013): Massenhaft. Kiel: ProVieh.

Kommentare sind geschlossen.