Meinungen zu aktuellen Kinderbüchern

Peter Härtling zu Gast bei der F.A.Z.-Literaturveranstaltung „Reden wir über Kinderbücher!“

Zum Auftakt der neuen Staffel der Veranstaltungsreihe „Sonntagsgeschichten“ luden am 4. November 2013 die F.A.Z.-Redakteure Tilman Spreckelsen und Eva-Maria Magel den renommierten Schriftsteller Peter Härtling zum Literaturgespräch ins Redaktionsgebäude der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein, um über fünf aktuelle Kinderbücher zu diskutieren. Wie bei den „Sonntagsgeschichten“, in deren Rahmen Autoren und Autorinnen zwischen November und März aus ausgewählten Büchern lesen, die sich vorwiegend an Kindergarten- und Vorschulkinder richten, kam auch der Erlös dieses Abends der Aktion „F.A.Z.-Leser helfen“ – einer Spendenaktion zur Unterstützung der Notfallseelsorge in Frankfurt und der Stiftung Childaid Network für Hilfe im indischen Guwahat – zugute.

Passend zur vorweihnachtlichen Zeit kam es in entspannter Atmosphäre zu einem verständigen Gespräch zwischen den drei Diskutierenden, bei dem Peter Härtling im Austausch mit Tilman Spreckelsen und Eva-Maria Magel auf sehr einsichtige Weise die etwaigen Stärken oder Schwächen eines jeweiligen Kinderbuchs abwog. Die zur Diskussion stehenden Bücher richteten sich dabei in ihrer Gesamtheit an eine Spanne von Lesern zwischen 3-14 Jahren. Das Literaturgespräch blieb aber bei der Präsentation der Meinungen von drei Diskutierenden zu fünf Kinderbüchern keinesfalls stehen, sondern regte durch die Lebendigkeit der Argumentation dazu an, sich als Leser erneut oder als künftiger Leser erstmals ein eigenes Bild zum jeweiligen Buch zu machen. „Reden wir über Kinderbücher!“ zeigte sich als eine Literaturveranstaltung, die sich erfreulicherweise beim Wort genommen hat, indem sie sowohl wichtige Impulse lieferte als auch das Publikum dazu einlud, miteinander zur aktuellen Kinderliteratur ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben.

Die Bücher des Abends: Eine Zusammenfassung der Diskussion

Isols „Überraschung für Nino“ (Betz Verlag)

Die in Argentinien gebürtige Kinderbuchautorin und Illustratorin Marisol Misenta, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen „Isol“, wurde 2013 mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet; der weltweit höchstdotierten Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. In “Ninos Überraschung” schreibt und illustriert Isol für Kinder ab 3 Jahre in ausgefallenen Bildern ein Plädoyer für Bücher. Der kleine Nino findet zufällig ein Paket im Schrank, das als Geschenk für seinen Geburtstag bestimmt ist. Der mysteriöse Inhalt, wie wir zum Abschluss der Geschichte erfahren, ist ein Buch. Isols Zeichnungen sind Explosionen der Phantasie, die in ihrer Explosivität vielleicht nicht jeden Leser für sich gewinnen können. Auch die gewagte These, dass ein Buch wirklich alle Geburtstagsträume erfüllen kann, impliziert wohl so manches enttäuschtes Kindergesicht. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt: Es gibt Abwegigeres, als dass eine Autorin an die Macht der Bücher glaubt und sich dafür ausspricht. Daran glauben wollen wir alle.

Aleksandra und Daniel Mizielinskis „Alle Welt“ (Moritz Verlag)

Der beeindruckende Wimmel-Atlas „Alle Welt“ richtet sich an Leser ab 9-10 Jahre, ist aber nicht allein für kleine Weltenwanderer eine beglückende Bereicherung, sondern auch für die Größeren unter ihnen. „Ich habe es angeschaut und es hat mich glücklich gemacht“, freute sich Peter Härtling. Die spielerische Systematik des grafisch hochwertig aufgearbeiteten Atlanten überzeugt durch eine feine Mischung aus Text und Bild. Die Autoren spielen mit der Vermittlung eines Geschichtsbildes, indem sie dieses weder „trocken“ noch exakt wiedergeben, sondern die Kombination von Begriffen und Bildern in ihrer Offenheit wirken lassen. Es wird dabei nicht auf Vollständigkeit bestanden, sondern ein Angebot von Begrifflichkeiten zugänglich gemacht, das als Anregung zur Recherche dienen kann. „Alle Welt“ ist ein klug durchdachtes Allerlei an Kultur, Kulinarischem und Geographie und lädt dazu ein, die Fremde auf unterschiedliche Weise zu entdecken und spielerisch von ihr zu lernen. Diejenigen unter uns, die schlecht in Geographie sind, haben dabei wahrscheinlich sogar den meisten Spaß.

Bart Moeyaerts „Hinter der Milchstraße“ (Hanser Verlag)

Der flämische Autor Bart Moeyaert, dessen Werke von Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt werden, liefert mit seiner Erzählung „Hinter der Milchstraße“ das wohl interessanteste, aber auch heikelste Buch des Abends. An wen richtet sich die einfühlsame Erzählung über Angst und Hoffnung? Der Erzähler der komplexen, mit motivischer Symbolik eng durchwebten Geschichte, die sich an Leser im Alter von 11-14 Jahren richtet, ist der 8-jährige Oskar. Ob die Probleme eines 8-Jährigen aber die Leserschaft erreicht, auf die hier abgezielt wird, zeigt sich als problematisch. „Hinter der Milchstraße“ bewegt sich sprachlich in einer Schwebe, einer Ungenauigkeit über einem realen Grund, und beschreibt so durch ein Übermaß an Symbolik eine „surreale Realität“ – eine verwirrende Welt, die für einen 8-Jährigen zuviel ist. Oskars Perspektive rutscht dabei in ein anderes, „älteres“ Alter. Dieser Erzählersprung bezüglich des Alters in der Erzählstimme wird jedoch nicht deutlich durch Verschiebungen markiert; sowohl die Einbrüche der motivischen Symbolik als auch die Unsicherheit der Erzählperspektive erscheinen als Grundfehler einer beeindruckenden Erzählung. Doch die Qualität der Geschichtenerzählung überwiegt, denn Bart Moeyaerts „Hinter der Milchstraße“ ist, wie Härtling mit Nachdruck betont, „fabelhaft erzählt.“

Hermann Schulz’ „Warum wir Günter umbringen wollten“ (Aladin Verlag)

Traumatisierte Kinder haben meist eine abwartende und abwehrende Sprache. In Hermann Schulz’ Roman für Leser ab 10-12 Jahre ist das allerdings etwas anders. Es ist März 1947, wenn wir den kindlichen Erzähler Freddy und seine Freunde kennen lernen und um deren Umgang mit dem Flüchtlingsjungen Günter erfahren; ein brutaler Umgang, den man heute als „Mobbing“ bezeichnen würde. Schulz erinnert damit an die ruhende, schreckliche Gewalt der Nachkriegszeit, doch tut er dies „in einer zu rohen Sprache“, wie Härtling anmerkt. Der Jargon des Ich-Erzählers erweist sich als „grob gestrickt“ und auch die Sensibilität für die Personen scheint darunter zu leiden, wirken diese doch an manchen Stellen etwas holzschnittig. Ein gelungenes Gegengewicht zur rauen Sprache der Erzählung sind die Illustrationen von Maria Luisa Witte, die – teils doppelseitig gesetzt – auf feine und gewagte Weise Stimmung setzen. Mit „Warum wir Günter umbringen wollten” greift Hermann Schulz das Thema Gewalt zwischen Gruppenzwang und individuellen Gewissen auf, dessen Relevanz sich übergangslos in die Gegenwart übersetzt.

Michael Endes „Momo“ – Neuausgabe 2013 (Thienemann Verlag)

Zur Feier des 40. Geburtstags von Michael Endes Klassiker „Momo“ hat der Thienemann Verlag eine Jubiläumsausgabe mit neuer Aufmachung herausgegeben. Illustriert ist die Neuausgabe von Johannes Erler, der sich in einem Wettbewerb gegen vier weitere renommierte Buchgestalter durchsetzen konnte, mit Grafiken von Dieter Braun. Es ist bemerkenswert, wie treffend Endes sozial-utopischer Roman die Welt beschreibt, in der wir heute leben. Die moderne Welt kennt keine Geheimnisse. Der Klassiker spricht für vergangene und kommende Generationen zugleich, vor allem aber spricht Michael Endes zeitloses Märchen für sich selbst, und zwar von Herzen. Es ist kein Geheimnis, dass die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, auch in künftigen Bücherregalen seinen besonderen Platz finden wird.

In diesem Sinne lässt sich im neuen Jahr wünschen, dass das eine oder andere der hier besprochenen Kinderbücher als Weihnachtsgeschenk bereits seinen Weg unter einen Weihnachtsbaum gefunden hat oder selbst nach Ende der besinnlichen Weihnachtszeit als ausgewählte Gabe in die Hände kleiner und auch großer Leser gerät. Literaturinteressierte, Studierte und Studierende, Großeltern und Eltern – sie alle waren bei der Literaturveranstaltung „Reden wir über Kinderbücher!“ gut aufgehoben, und zwar an einem Ort des Austauschs von Lektüreerfahrungen, die kein Urteil fällten, sondern zur eigenen Lektüre Lust machten. Die Meinungen des Einzelnen ließen durchaus einen Raum offen für eine künftige Lektüre durch Leser aller Art, für Kinder und Erwachsene. Die Sahnehäubchen des Abends bildeten einige Anekdoten Peter Härtlings im Gespräch, die der Autor so erzählte, wie sie nur ein Geschichtenerzähler erzählen kann. „Reden wir über Kinderbücher!“ – hoffentlich auch zur nächsten Weihnachtszeit in diesem Jahr.

Literatur

Ende, Michael. Momo. Thienemann Verlag: 2013

Isol. Überraschung für Nino. Betz Verlag: 2013

Mizielinski, Aleksandra und Daniel. Alle Welt. Moritz Verlag: 2013.

Moeyaerts, Bart. Hinter der Milchstraße. Hanser Verlag: 2013.

Schulz, Hermann. Warum wir Günter umbringen wollten. Aladin Verlag: 2013.

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