Morgen ist woanders

Jakob ist 17, lebt mit seiner Mutter und dem Stiefvater in einer gehobenen Vorortsiedlung von Wien. Er ist gut in der Schule, unauffällig und ein ganz gewöhnlicher Teenager in einem eigentlich behüteten Umfeld. Nur: Er ist trotzdem nicht zufrieden mit seinem Leben. Besonders Mart, sein Stiefvater, geht ihm auf die Nerven. Als dieser sich weigert, Jakob ein Auslandsjahr in Australien zu finanzieren, beschließt Jakob von Zuhause abzuhauen – soweit so klassisch das Muster des Adoleszenzromans. Aber an dieser Stelle findet Elisabeth Etz in Morgen ist woanders einen neuen und interessanten Kniff, denn Jakob reißt nicht aus, um sich in die Ferne zu schlagen, sondern bleibt in Wien und schafft sich dort eine alternative Identität.

Familiäre Ausgangslage

Jakob spielt seiner Mutter und Mart vor, zu seinem leiblichen Vater in Wien zu ziehen, obwohl er zu diesem – abgesehen von einem jährlichen Weihnachtspaket – so gut wie keinen Kontakt hat. Es kommt zwar am Beginn zu einem kurzen Zusammentreffen von Jakob und seinem Vater, aber es wird Jakob sehr schnell deutlich, dass im neuen Leben seines Vaters, mit Frau und zwei Kindern, kein Platz für den Ältesten aus einer früheren Beziehung ist. So fasst Jakob den Plan, dennoch nicht nach Hause zurückzukehren und stattdessen kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten über die Internetplattform It’s Your Home (IYH) zu suchen und ständig von einer Couch zur nächsten zu surfen. Jakob will gar nicht aus der Stadt weggehen, da er nach Außen die Fassade als Musterschüler und -sohn aufrecht zu erhalten versucht. Damit verhandelt der Roman ein interessantes Dilemma der Adoleszenz: Jakob steht zwischen Rebellion und Auflehnung sowie dem Pflichtbewusstsein darüber, dass die Schulausbildung für seinen weiteren Lebensweg entscheidend wichtig ist. Entsprechend ergibt Jakob sich nicht in eine kopflose Suche, lotet aber seinen Möglichkeitsraum neu aus.

Wer bin ich – wenn ja, wie viele?

Die neu gewonnene Wohnfreiheit nutzt Jakob, um sich ein Alter Ego zu kreieren mit dem er durch Wien streifen kann. So meldet er sich auf IYH nicht mit seinem wirklichen Namen an, sondern erfindet Jeremy aus Schottland, der in Wien Gastgeber_innen sucht, während der alte Jakob weiterhin zur Schule geht. Jakob ergeht sich im lustvollen Lügenspinnen und Geschichtenerzählen über Lebensentwürfe, die nicht seine sind, aber seine sein könnten: Sinnbildlich steht diese Konstruktion für die fließende Biographiearbeit während der Adoleszenz, wenn sich die Vorstellungen über das eigene Selbst neu definieren und verändern. Eben dies spielt Jakob Tag für Tag durch und erprobt verschiedene Identitätsentwürfe. Dass dies aber auch harte Arbeit ist und er sich darin aufzureiben droht, stellt er fest, wenn sich zunehmend Situationen ergeben, in denen er mit seinem Spiel aufzufliegen droht. Sukzessive entgleitet Jakob sein Vorhaben, es wird immer schwieriger, neue Hosts zu finden und ihm geht das Geld aus. Parallel dazu entdecken Jakobs Klassenkamerad_innen sein Vorhaben und sie schließen Wetten ab, ob er es schaffen wird. Zentral ist dabei der Konflikt, den Jakob mit einem Mitschüler austrägt, den er wenig leiden kann. Ihre gegenseitige Abneigung gipfelt schließlich in der Wette und treibt ihn immer weiter an.

Wiener Stadtraum

Die Bewegungen durch den Wiener Stadtraum, evoziert durch die wechselnden Gastgeber_innen in sehr verschiedenen Teilen der Stadt, markieren einen zentralen Aspekt des Romans. Die Kapitelüberschriften betonen dies zusätzlich, indem sie immer die Straße angeben, in der Jakob sich zu dem Zeitpunkt befindet. Auf dem Stadtplan von Wien kann man Jakobs Spuren genau nachverfolgen. Nach vier Monaten scheitert Jakob jedoch mit seinem Versuch, als er für mehrere Tage keine Unterkunft mehr findet, Nächte in U-Bahnen, Bahnhöfen und Kneipen verbringt und schließlich entkräftet von seinem besten Freund und seiner Freundin aufgelesen wird. Das Ende des Romans lässt offen, wie es Jakob weiter ergehen wird. Man erfährt nur, dass die Freunde ihm einen kleinen Nebenjob sowie eine feste Unterkunft organisiert haben. Auf der letzten Seite blickt Jakob auf sein Handy, auf dem sich mehrere Nachrichten und Anrufe angesammelt haben: „Dann greife ich zum Telefon und wähle“ (S. 390) ist der letzte Satz – für wen und welchen Lebensverlauf Jakob sich entschieden hat, muss man sich selbst ausmalen. Der Text hat dafür ein ganzes Panorama an Optionen entfaltet, gespiegelt in der Topographie der Stadt.

Diskursknäuel

Morgen ist woanders ist sprachlich und erzählerisch ein gut konstruierter Text, der auf interessante Weise mit den Merkmalen des Adoleszenzromans spielt und diese variiert. An einigen Stellen wirkt der Text aber auch etwas überladen mit aktuellen Diskursen und Anspielungen und bei fast 400 Seiten hätten ein paar Kürzungen den Text möglicherweise gestrafft. Insbesondere am Ende: Dort trifft Jakob im Schönbrunner Schloßpark einen geflüchteten jungen Mann und es entwickelt sich eine vorsichtige Bekanntschaft zwischen Hamid und dem Protagonisten. Es folgen einige Szenen, die jedoch recht plakativ auf die unmenschlichen Schicksale und den Umgang mit Geflüchteten hinweisen. Die Kritik an der gegenwärtigen österreichischen Regierung ist unübersehbar und bekannterweise angebracht, wirkt an dieser Stelle in dem Roman aber als Fremdkörper. Dennoch ist Morgen ist woanders ein sehr lesenswerter und gelungener Roman.

Literatur

Etz, Elisabeth: Morgen ist woanders. Wien: Tyrolia 2019.

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