„Glauben ist, wenn man will, dass Sachen stimmen, von denen man eigentlich weiß, dass sie unmöglich sind“ (de Velasco, S. 21), reflektiert die 14-jährige Protagonistin Nini in dem Roman Tigermilch und umreißt damit unwissentlich den Kern des Comics Münchhausen von Flix und Bernd Kissel. Denn genau diesem Spannungsfeld aus Glauben und Wissen, widmet sich der Comic. Wie bereits der Untertitel verspricht, erfahren wir darin nicht weniger als Die Wahrheit übers Lügen. Und dieses Versprechen löst die Erzählung auch ein, denn diese kreist um den berühmten und titelgebenden Lügenbaron Münchhausen, der aus den Geschichten von Gottfried August Bürger entspringt. Dessen fantastische und überhöhte Abenteuer löst Flix – der das Szenario entworfen hat – aus ihrem ursprünglichen Kontext und transferiert die Handlung ins 20. Jahrhundert. Medias in res beginnt die Handlung, es ist 1938 am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in London und plötzlich taucht ein Mann mit einem Heißluftballon über dem Buckingham Palast auf und behauptet, er käme vom Mond. Die Engländer wittern einen deutschen Spion und nehmen ihn in Gewahrsam, um ihn von Sigmund Freud befragen zu lassen.
Das therapeutische Gespräch
Waren die ursprünglichen Geschichten des Lügenbarons vor allem durch ihre Absurdität und überbordenden Übertreibungen gekennzeichnet, die in der Erzählung ungebrochen bleiben, erfahren diese Ereignisse in der Neuauflage eine Plausibilisierung: im therapeutischen Gespräch mit Sigmund Freud entblättern sich sukzessive und rückblickend die Hintergründe von Münchhausens Abenteuern. Die erzählte Gegenwart schwenkt immer wieder zurück in die Vergangenheit und leuchtet die psychologischen Dispositionen der Figur vorsichtig aus. Bild- und Textebene spielen dabei virtuos zusammen, wenn etwa Freud und Münchhausen auf ihren Stühlen sitzen, während im Hintergrund bereits die Erinnerungen einbrechen und sich beide Figuren gleichzeitig in einem Hafen befinden. Das Kammerspiel der Befragung öffnet sich so immer wieder und fügt der Figur Münchhausen nicht nur ein glaubwürdiges Trauma hinzu, dass das Verhältnis von Wahrheit und Glauben verhandelt, sondern bettet darüber unzählige Querverweise auf den Ursprungstext ein.
Ursprung, Kern, Wandel
Die Abenteuer des Baron von Münchhausen sind als zentraler Referenzkern immer präsent, wie beispielsweise die Episode, in der er sich am eigenen Schopfe packt, um sich aus dem Schlamassel zu befreien. Diese Bezüge werden aber im Transfer mit einer klugen Hintergrundgeschichte versehen und in eine Figur mit Tiefgang transponiert – wobei sich Münchhausen darüber auch von einem lustig unzuverlässigen Erzähler par excellence in eine tragisch-komische Figur wandelt. Welche weiteren Geheimnisse Freud aufspürt und was sich auf der Rückseite des Mondes tatsächlich befindet, soll hier jedoch nicht verraten werden. Besonders hervorzuheben ist dafür noch die gelungene graphische Gestaltung, auch wenn diesmal auf Flix‘ Zeichnungen verzichtet werden muss, so bleiben die kraftvollen Bilder von Bernd Kissel kein bisschen dahinter zurück. Er schafft es, der Geschichte im Medienwechsel zum Comic einen schwungvollen Ton zu geben, an dem man sich kaum satt sehen kann. Marvin Clifford hat die schwarz-weißen Zeichnungen mit vielschichtigen Graustufen versehen und in diesem Zusammenspiel von graphischem Einfallsreichtum und kluger Adaption des Prätextes entfaltet die Münchhausen-Erzählung einen enormen Sog.
Literatur
Flix; Kissel, Bernd. Münchhausen. Die Wahrheit übers Lügen. Hamburg: Carlsen 2016.
Velasco, Stefanie de. Tigermilch. Köln: KiWi 2015.