Nicht so das Bilderbuchmädchen

Seit Sam vor kurzem mit seinen Eltern gegenüber in die Wohnung von Zara und ihrer Mutter eingezogen ist, beobachtet Zara den Jungen immer wieder. Denn: Sam weint fast jeden Nachmittag, wenn er in seinem Zimmer ist. Zaghaft beginnt Zara eine vorsichtige Kontaktaufnahme mit Zetteln, die sie in ihr Fenster klebt. Sam geht nach kurzem Zögern darauf ein, antwortet mit Botschaften und schrittweise entwickelt sich eine Freundschaft zwischen beiden Figuren, ohne dass sie tatsächlich miteinander sprechen. Allein die geschriebenen Nachrichten, die sie ihrem Gegenüber an das Fensterglas halten, sind ihr Medium. Nicht so das Bilderbuchmädchen von Agnes Ofner ist ein tolles, vielschichtiges und kluges Buch, über das man eigentlich so viel sagen müsste, dabei aber immer zu viel verrät. Daher gilt eine Spoiler Warnung für den Rest der Besprechung.

Erzählweise und Handlungsaufbau

Ohne Hektik und in großer Sorgfalt zeichnet der Text seine beiden Hauptfiguren in leisen Zwischentönen, wobei abwechselnd aus der Mitsicht von Zara und Sam in einer personalen Konstruktion erzählt wird. Die einzelnen Passagen sind meist nicht länger als ein oder zwei Seiten, dennoch gelingt es Ofner auch in dieser Kürze, ihren Figuren viel Wärme und Plastizität zu verleihen. Schrittweise nähern sich die beiden an, man bekommt Einblicke in Sams Traurigkeit, ohne zunächst zu wissen, was der Auslöser dafür ist; es wird das Miteinander mit seinen Eltern geschildert und sein Erleben in der Schule. Gleichzeitig erfährt man, wie Zara sich das erste Mal verliebt – ohne, dass dies der zentrale Konflikt wäre, wie sie mit ihrer besten Freundin streitet und wie sie mit ihrer Allein erziehenden Mutter lebt. Es ist beeindruckend, wie leichtfüßig Ofner es gelingt, von einem Teenager Dasein zu erzählen, ohne dies dramatisch zu überhöhen oder zu verkitschen. Mit gutem Blick für Details entwickelt sie einen Text, der auf der Handlungsebene eigentlich wenig erzählt, aber dennoch so klug so viel anderes erzählt – nicht allein dadurch, dass die Figuren ganz selbstverständlich ein Spektrum an verschiedenen Hautfarben und Familienmodellen abbilden.

Erzählte Geschlechtsidentität

Erst schrittweise deckt sich auf, dass Sam mit seiner ihm zugeschriebenen Genderrolle und seinem von ihm sogenannten „Vorzeichenfehler“ (S. 166) hadert: Er selbst weiß ganz sicher, dass er ein Junge ist, auch wenn ihm bei der Geburt zunächst das Geschlecht eines Mädchens zugewiesen wurde: „Sam war vielleicht immer schon Sam, aber nicht auf dem Papier.“ (S. 161) Dass auf den 160 Seiten zuvor ganz selbstverständlich von Sam mit den Pronomen er/ihm erzählt wurde, hat auf der narrativen Ebene bereits eine gefestigte Geschlechtsidentität etabliert, die sowohl für alle Leser_innen als auch für Zara, die den neu zugezogenen Jungen noch nicht kannte, und Sam selbst unhinterfragt ist. Damit findet der Roman eine geschickte narrative Strategie, um von einem trans Jungen zu erzählen, ohne diesen mit einschlägigen Klischees und problematischen Labels zu stigmatisieren. Sam ist einfach Sam. Weder wird Sams früherer Name, der sogenannte Deadname genannt, noch wird er mit falschen Problemen angesprochen. Sams Outing markiert den Schluss des Romans und gibt Ausblick auf eine Transition, die zwar fordernd und schwierig ist, hier aber von einem liebevollen Umfeld begleitet und gefördert wird. Besonders cool reagiert Sams Schulfreundin Paula, sie „schaut ihn an, mit leicht zusammengekniffenen Augen, wie immer, wenn sie nachdenkt. Und dann lächelt sie und sagt: ‚Okay!ʻ Und sonst nichts.“ (S. 155) So zeigt der Text, wie unaufgeregt und selbstverständlich geschlechtliche Diversität ist.

Literatur

Agnes Ofner: Nicht so das Bilderbuchmädchen. Wien: Jungbrunnen 2019.

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