Night in the Woods

In diesem Beitrag möchte ich ein Indie-Spiel empfehlen, wie es besser kaum zur Definition passen könnte. Das 2017 veröffentlichte Night in the Woods wurde vom Studio Infinite Fall erschaffen, bei dem gerade einmal drei Personen den gesamten Design-Prozess vom Writing über das Design, die Programmierung und die Musik übernommen haben.

In Night in the Woods verkörpern Spieler*innen die Rolle der jungen Frau Mae Borowski, welche vom College in ihre schläfrige amerikanische Heimatstadt Possum Springs zurückkehrt und dort auf ihre Familie, alte Freund*innen und ein sich langsam entfaltendes Mysterium trifft. Der Titel gehört zum Genre der Adventure-Spiele und konzentriert sich dabei auf die Erkundung der Spielwelt, einfache Point-and-Click Rätsel und die Interaktion mit den Bewohner*innen von Possum Springs. Optisch erinnert das handgezeichnete Spiel in simpler und stimmungsvoller Comicgrafik dabei an Klassiker des Adventure-Genres, bringt aber auch einen eigenen Stil mit.

Das Bild zeigt die Hauptfigur des Spiel 'Night in the Woods', Mae Borowski, auf dem Geländer einer Eisenbahnbrücke sitzend.
Hauptfigur Mae Borowski auf unverkennbarer Eisenbahnbrücke – Screenshot von Dennis Hoksch

In unserem Blog besprochen wird der Titel, da er gekonnt drei verschiedene Motive zu einer Spielerfahrung zusammenführt, die ein einzigartiges Narrativ ergeben. Im Spiel trifft eine typische Adoleszenz-Erzählung auf eine Gruselgeschichte und den stets spürbaren Hintergrund der amerikanischen Erosion des ländlichen Raums.

Adoleszenz

Adoleszenzerzählungen beschreiben üblicherweise den Übergang von der Jugend in das Erwachsenenalter und all die Probleme und Konflikte, die damit einhergehen können. Die Protagonistin aus Night in the Woods steckt mit Blick auf ihre Lebenssituation als frische Studentin mitten in diesem Prozess und scheint tatsächlich keinen Mangel an Lebenskrisen zu haben.

Mae Borowski kehrt in ihre Heimatstadt und in ihr Elternhaus zurück, weil sie das College geschmissen hat, wie sie nach einiger Zeit zögerlich ihren Eltern und Freunden beichtet. Wie genau es zu dieser Entscheidung kam, wird erst spät im Spiel Schicht für Schicht freigelegt und soll hier nicht verraten werden. Wichtig für die Adoleszenz-Erzählung ist vor allem, dass Mae mit der Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit bewusst in alte Muster zurückzufallen scheint. Als Spieler*in lernt man schnell, das vor allem die Erwachsenen befürchten, Mae könne wieder in Probleme geraten, bzw. andere Leute zu problematischem Verhalten anstiften. Während der Erkundung von Possum Springs lassen einen die älteren Bewohner*innen in vielen Dialogen wissen, dass die meisten mindestens eine negative Erinnerung mit Mae verbinden.

Zwei gute Freund*innen von Mae leben weiterhin in Possum Springs, einmal ihre Freundin Bea (dargestellt als Krokodil in einer Gothic-Phase) und ihr ehemals bester Freund Gregg (ein wilder Fuchs in passendem James Dean-Outfit), welcher in einer Beziehung mit dem ruhigen Angus lebt (einem Bären mit Nerd-Brille und Hut).

Das Bild zeigt Mae Borowski mit ihrer Freundin Bea nebeneinander auf einer Couch liegend, Bea sagt gerade in einer Sprechblase: I know. We're all scared.
Mae und Bea – Screenshot von Dennis Hoksch

Während Mae aufs College gegangen ist, steckt die restliche Gruppe in Possum Springs fest und schlägt sich als Ladenpersonal in lokalen Geschäften durch. Sie alle haben auf die ein oder andere Weise den Plan, die Stadt zu verlassen, doch Mae ist die einzige, die den Absprung bisher geschafft zu haben scheint – und nun zurückkommt und keinerlei Verständnis dafür zeigt, dass ihre alte Clique nicht die gleichen wiederentflammten Gefühle für ihre Heimat hat, wie sie selbst. Scheinen sich zu Beginn noch alle drei über Maes Rückkehr zu freuen und alte Rituale wie Bandproben wieder aufleben zu lassen, werden schnell Risse in der Freundschaftsdynamik sichtbar: Mae ist nicht in der Lage zu akzeptieren, dass ihre alten Freunde sich ebenfalls weiterentwickelt haben und ihre Freunde können nicht verstehen, was Mae dazu gebracht hat, ihre Chance auf ein anderes Leben wegzuwerfen.

Grusel und Trauma

So verschlafen Possum Springs auch ist, schnell wird klar, dass im Hintergrund merkwürdige Dinge geschehen. Früh im Spiel erfährt Mae, dass eine alte Mitschülerin vermisst ist und offiziell gesucht wird. Bald wird klar, dass sie nicht die einzige Person ist, die in den letzten Monaten aus der Stadt verschwunden ist. Die meisten Bewohner*innen gehen davon aus, dass alle Vermissten letztlich einfach ihr Glück woanders gesucht haben und still und heimlich abgehauen sind, aber bei Mae melden sich schnell Zweifel an. In der Nacht des städtischen Halloweens-Festivals ist die Protagonistin dann schließlich Zeugin eines Kidnappings durch eine vermummte Gestalt.

Weil die Erwachsenen des Ortes wenig tun, um der Sache nachzugehen, stiftet Mae ihre Freunde dazu an, mit ihr Ermittlungen aufzunehmen. Auch diese glauben zuerst nicht an ein übernatürliches Ereignis, machen sich aber sichtlich Sorgen um ihre Freundin, auf welche das Erlebte einen starken negativen Einfluss hat. Ab dem Moment der beobachteten Entführung wird Maes eigener Zustand instabiler und immer öfter zeigen sich in ihrem Verhalten Anzeichen einer Angststörung, die sich in ihrer Zeit im College entwickelt zu haben scheint.

Der Mystery-Plot wird zum vordergründigen roten Faden der Spielhandlung, verbindet sich aber dabei nach bewährter Formel mit einem Motiv der Adoleszenz-Erzählung: Da die Erwachsenen die Jugendlichen nicht ernst nehmen, kümmern sich diese selbst um ihre eigenen Belange. Und dies bedeutet in Night in the Woods zum Beispiel, auf Spurensuche in alten Spukhäusern und nächtlichen Friedhöfen zu gehen und gleichzeitig die eigene Vergangenheit zu bewältigen.

The American Nightmare

Den Hintergrund sowohl der Adoleszenz- als auch der Grusel-Erzählung bietet der Ort Possum Springs selbst. Die ehemals florierende Bergarbeiterstadt ist deutlich im Niedergang, was sowohl die Gespräche mit ihren Bewohner*innen, als auch das triste Stadtbild mit leerstehenden Läden zeigen. Possum Springs ist eine Sackgasse geworden für alle, die dort leben und nicht die Mittel finden, woanders einen Neuanfang zu starten.

Das Bild zeigt Protagonistin Mae Borowski vor einem leerstehenden Laden in ihrer Heimatstadt Possum Springs stehen.
Mae auf Erkundungstour in Possum Springs – Screenshot von Dennis Hoksch

Die Veränderung der Stadt verstärkt im Spielverlauf die Krise der Protagonistin. Diese sehnt sich nach Geborgenheit durch Beständigkeit, erkennt ihren alten Lebensmittelpunkt aber zunehmend nicht mehr wieder, was bei ihr zu immer stärkeren Auflösungserscheinungen führt. Erst über die Situation der Stadt selbst wird im Spiel die Situation der Hauptfigur herausgearbeitet, denn beide haben mit Zukunftsängsten, Perspektivlosigkeit und verlorener Identität zu tun.

Auch die Ebene der Mystery-Erzählung ist letztlich an die Transformation der Stadt geknüpft: Eine rationale Erklärung für das Verschwinden von Leuten ist es, dass diese die Stadt aufgrund fehlender Perspektiven einfach verlassen haben. Auch wenn an dieser Stelle nicht verraten wird, wie Night in the Woods diesen Teil des Plots schließlich auflöst, so kann bereits klar gemacht werden, dass die Erklärung eng mit der Entwicklung der Stadt verbunden ist und zu einem doppelbödigen American Nightmare wird.

Figuren im Mittelpunkt

Night in the Woods ist ein besonderes Erzählspiel, welches seine Figuren in den Mittelpunkt stellt und sämtliche Handlung auf diese ausrichtet. Die Stadt Possum Springs, obwohl in spielerischen Dimensionen klein und überschaubar, ist der ideale ‘Spielplatz’ für einen Cast toll geschriebener Figuren, die bis in die kleinste Nebenrolle hinein zum Narrativ beitragen.

Wer sich gute Spiele mit erzählerischem Tiefgang wünscht und nichts dagegen hat, während dem Spielen viel Text zu lesen, der sollte dem Titel auf jeden Fall eine Chance geben und das Mysterium um Possum Springs, Mae und ihre Freunde selbst lösen.

Quellen

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