Elisabeth Steinkellner veröffentlicht bereits seit einigen Jahren regelmäßig ungewöhnliche und vielschichtige Kinder- und Jugendbücher (Die Kürbiskatze kocht Kirschkompott (2016), Rabensommer (2015)), sowie Lyrik (Die Nacht der Falter und ich (2016)) und hat sich als wichtige Stimme der österreichischen KJL profiliert. Prägnant sind neben den hervorragenden Texten dabei immer wieder auch die Illustrationen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstler_innen entstehen und ihre Werke nicht nur begleiten, sondern eng damit verwoben sind. Steinkellners neuestes Jugendbuch Papierklavier wurde von Anna Gusella illustriert und erweist sich als einfühlsames Werk, das geschickt das Potential des Zusammenspiels aus Schrift und Bild nutzt, um vom Alltag einer 16-jährigen zu erzählen.
Schreiben am Selbst – Selbst zeichnen
Einschließlich des Covers und des Vorsatzblattes wird der gesamte zur Verfügung stehende Erzählraum genutzt. Jede Doppelseite ist durchkomponiert mit Illustrationen und typographischen Variationen. Bereits die Buchinnendeckel sind wimmelbildartig bekritzelt – nicht zufällig, denn erzählt wird aus der Sicht von Maia in einer Tagebuch- bzw. Skizzenbuchform. Nach dem Titelblatt zeigt die erste Seite eine Illustration der Jugendlichen an ihrem Schreibtisch sitzend, am aufgeschlagenen Skizzenbuch arbeitend. Der gegenüberliegende Schrifttext führt in die dazugehörende Tagebuchfiktion hinein:
Liebes Tagebuch
liebes Skizzenbuch
(NEIN, zu unpersönlich; vielleicht ein Katzenname?)
Liebe Mautzi
(oder ganz royal:)
Liebe Lady Di (für Diary)
(ohne Seitenzahl)
Humorvoll spielt Maia am Beginn verschiedene Varianten durch, reflektiert ihren Schreib- und Zeichenprozess und sucht ihren eigenen Stil im Umgang mit dem Schreiben – dies setzt sich fort in der typographischen Variation einzelner Worte sowie dem Satzspiegel auf der Seite. Unmittelbar steht die erzählerische Form aus Bild- und Schrifttext so im Zusammenhang mit dem Erzählten, das den Alltag einer Heranwachsenden auf der Suche thematisiert. Metaphorisch kann man die experimentierende Erzählform als einen Zeichenträger für die suchenden Prozesse während des Heranwachsens lesen.
Aus dem Alltag einer 16-jährigen – Wachstumsschmerzen
Der Verlauf folgt keiner typischen linearen Geschichte, wie man sie aus vielen Adoleszenzromanen kennt, vielmehr stehen wie kleine Vignetten einzelne Beobachtungen und Erlebnisse Maias nebeneinander, die sich im Tage- und Skizzenbuch lose miteinander verbinden. Steinkellner findet dafür einen treffenden eigenen sprachlichen Ton, während Gusella auf jeder Seite dazu passende Illustrationen entwickelt. So entsteht ein Kaleidoskop aus Alltagsfragmenten, das berührenden Einblick in die Erlebens- und Erfahrungswelt einer 16-jährigen gibt. Dabei verbinden sich immer wieder tragisch-komische Elemente miteinander. Dass das Erwachsenwerden mit Wachstumsschmerzen (wie Tamara Bach es formuliert) verbunden ist, zeigt sich auch bei Steinkellner, als am Beginn der Aufzeichnungen unerwartet Maias Ersatz-Oma Sieglinde stirbt. Dieser einschneidende Moment steht sicher nicht zufällig am Anfang der Aufzeichnungen, zusätzlich verstärkt wird dieser Moment dadurch, dass Maia das vorliegende Skizzenbuch kurz zuvor „von Oma Sieglinde geschenkt bekommen“ (o.S.) hat.
Verantwortungsgefüge
Maias weiteres familiäres Gefüge, das eine zentrale Rolle in ihren Alltagserzählungen einnimmt, besteht aus ihrer alleinerziehenden Mutter und zwei jüngeren Schwestern. Wie in vielen aktuellen deutschsprachigen Adoleszenzromanen, zeigt sich auch hier ein eigentlich liebevoller, aber durch verschiedene Probleme aufgestörter innerfamiliärer Umgang. So spielt Maia beispielsweise am Beginn durch, was sie mit drei Euro Essensgeld zusätzlich anfangen würde. Statt des ersehnten Cappuccinos oder eines Soja-Mango-Jogurts kauft sie schließlich „eine Packung Nudeln, eine Dose passierte Tomaten und einen Sack Äpfel für uns alle.“ (o.S.) Viele solcher Details in Maias Aufzeichnungen verdeutlichen, dass sie immer wieder in eine Verantwortungsposition rutscht, die ihre Mutter in ihrer häufigen Abwesenheit und der damit verbundenen Ermüdung von der vielen Arbeit nicht ausfüllen kann. Maia selbst hat einen Nebenjob in einem „Saftladen“ (o.S.), um ihre Mutter finanziell zu unterstützen oder ihrer jüngeren Schwester Klavierunterricht zu ermöglichen. Der Nebengeschichte um die Schwester entspringt auch das titelgebende Motiv des Papierklaviers, das immer wieder aufgegriffen wird. So erzählt der Roman von einer Adoleszenz, die sich nicht in spannungsgeladenen Rebellionsmomenten offenbart, sondern vielmehr durch eine verfrühte Verantwortungsübernahme gekennzeichnet ist.
Normative Grenzziehungen
Dass die drei Geschwister außerdem drei verschiedene Väter haben, ist für sie selbst kein Problem, aber gesellschaftlich immer noch negativ konnotiert, wie Maia auf einer Doppelseite beißend kommentiert: „Leute (insgeheim): Schon mal was von VERHÜTUNG gehört? […] (und laut, mit schiefem Blick): AAAA-HA.“ (o.S.) Solche Normüberschreitungen und -ausbrüche aus festen gesellschaftlichen Konventionen kann man als leitmotivische Metastruktur des Textes ausmachen. Immer wieder wird, ohne dies mit dem Holzhammer zu vermitteln, hinterfragt was Rollenbilder ausmacht oder was als ‚normal‘ gilt. Subtil sind dem Text dabei vor allem viele feministische Diskurse eingeschrieben, die Maia aus ihrer Sicht aufgreift und starre Genderzuschreibungen hinterfragt: „Irgendwo / Muss ja mal / irgendwer / damit anfangen, / sich wohlzufühlen, / in der eigenen Haut, / im eigenen Leben, / auch, wenn es nicht / der Norm entspricht.“ (o.S.). Auch in den Nebenfiguren zeigt sich dabei eine inklusive Diversität, etwa in einer nicht-binären Figur. Jede Seite ist individuell gestaltet und durch die Illustrationen geprägt. Papierklavier ist ein berührender, humorvoller und in vielen Passagen auch trauriger Roman – vielleicht sogar einer der interessantesten und besten deutschsprachigen Jugendromane in diesem Jahr.
Literatur
Steinkellner, Elisabeth: Papierklavier. Illustriert von Anna Gusella. Weinheim: Beltz & Gelberg 2020.