„Weg.
Bloß weg.
Nichts wie weg.
[…] Mit dem Zug ans Meer.“ (S. 5)
Unvermittelt beginnt Gabi Kreslehners kurzer Roman PaulaPaulTom ans Meer (2016) mit der sehnsuchtsvollen Beschreibung eines Weggangs. Dass dahinter die 15-jährige Paula steckt, wird umgehend aufgedeckt, ebenso, dass sie tatsächlich in einem Zug sitzt und wegfährt. Nur die Umstände ihres Aufbruchs stehen ihrer Vorstellung deutlich entgegen und auch das Ziel ist noch nicht das richtige. Paula fährt nicht für sich allein ans Meer, sondern muss ihren zwei Jahre älteren Bruder Paul abholen. Dieser hat eine geistige Behinderung und lebt in einem Heim, in einiger Entfernung vom Elternhaus. Wie der Titel andeutet, spielt ein weiterer Junge eine wichtige Rolle: Der 17-jährige Tom, den Paula im Zug kennenlernt und sich spontan in ihn verguckt. So kommt es, dass Paul, Paula und Tom doch noch wie der Titel verspricht gemeinsam ans Meer verreisen.
Nomen est omen
Seit sie sich erinnern kann, kümmert Paula sich um Paul. Ihre Namensparallele ist keine launige Spielerei ihrer Eltern, sondern mit einer metaphorischen Einschreibung versehen: In ihrer namentlichen Verbundenheit schwingt das besondere geschwisterliche Band zwischen den beiden mit. Diese oft aber auch nicht immer einfache Beziehung thematisiert der Roman und stellt Paulas Hadern und ihr Zweifeln heraus – vor allem in erinnerten Rückblenden, die offenbaren, dass Paula beispielsweise einmal versucht hat Paul zu verkaufen. Sie gibt als autodiegetische Erzählstimme ungeschönte Einblicke in ihr Innenleben, unterbrochen werden diese längeren Passagen wiederum von kurzen Einschüben, die Pauls Mitsicht thematisieren. Und an dieser Stelle muss man einen kritischen Blick auf die erzählerische Konstruktion werfen, denn gerade diese Absätze entfalten einen Blick auf eine geistig behinderte Figur, die mich befremdet hat. Pauls Erzählstränge folgen einem losen kohärenten Fluss, assoziativ reihen sich Wahrnehmungseindrücke aneinander, was als Darstellungsstrategie noch funktioniert. Irritierend ist in der Konstruktion jedoch, dass Paul nicht als Ich-Erzähler zu Wort kommt, sondern in einer personalen Stimme von den Abläufen über ihn berichtet wird: „Er springt hoch, schüttelt den Kopf. Ohgottohgottohgott! Vergessen! […] Er wirbelt mit den Armen. Nein, sagt er. Ja, sagt er.“ (S. 17) Die Unmündigkeit, die Paul in seinem Alltag widerfährt, setzt sich im Erzählen fort und erweist sich als ein Mittel der Aufstörung, um die Entfremdung vor sich selbst und seiner Umgebung aufzuzeigen. Für mich blieben diese eingebauten Fragmente dennoch eher störend, denn unterschwellig wird der Figur in dieser narrativen Konstruktion auch ihre Autonomie abgesprochen; gelungen sind hingegen die vielen Wortspiele, die Pauls Sprache ausmachen und eine Freude am Experimentieren mit Sprache zeigen.
Zugfahrt ans Meer
Seine Stärke entwickelt der Text vor allem in den leisen Dialogen des Kennenlernens zwischen Paula und Tom. Bevor Paula ihren Bruder einsammeln kann, trifft sie im Zug auf Tom. Die beiden sitzen gemeinsam in einem Abteil und sofort ist eine unbestimmte Anziehung zwischen den beiden, die nicht das Klischee einer Liebe auf den ersten Blick ungebrochen fortschreibt. Der Roman lässt sich dankenswerterweise viel Zeit, nachzuzeichnen, wie sie sich langsam annähern. Und dann steigt Paula plötzlich aus, ohne dass sie Namen oder Nummern ausgetauscht hätten. Durch einen Zufall treffen sie sich am Bahnhof aber wieder, als Paula mit Paul abfahren will. Tom spielt dort Saxophon und zieht damit nicht nur Paula, sondern auch Paul in den Bann. Spontan spinnen sie den Plan, gemeinsam ans Meer zu fahren und so setzen sie sich in den Zug in die entgegengesetzte Richtung. Paula weiht den Vater kurzerhand ein und bekommt die Erlaubnis, den Bruder zwei Tage zu entführen. Die Eltern verbleiben so als schemenhafte Randfiguren, die mit ihren ganz eigenen Problemherden zu kämpfen haben und dabei ihre Kinder bisweilen vernachlässigen.
Ein Finale voller Zufälle
Am Meer angekommen entspinnt sich dann ein Szenario, das von bisweilen überhöhten Zufällen bestimmt ist. Diese sollen hier im Detail natürlich nicht enthüllt werden, aber jede der Figuren trifft nochmals auf Bekannte, bevor Paul, Paula und Tom schließlich zurückfahren. Der Roman ist in dieser Hinsicht keine klassische Road Novel, da sie weder mit einem Auto unterwegs sind, noch das Moment der Reise als Rebellion zentraler Erzählkern ist. Entscheidend sind vielmehr das Zusammensein und das Kennenlernen der Figuren. So nähern sich nicht nur Paula und Tom an, sondern gerade Paula gewinnt auch neue Perspektiven auf ihre Beziehung zu Paul. Besonders gelungen ist dabei die suchende Sprache, die Paula als Erzählstimme bekommt. Vieles bleibt nur umrissen und nicht alles ausformuliert. Ihr Wunsch vom Wegsein hat sich abschließend dann jedoch erfüllt und eine neue Komponente des Miteinanders hinzugewonnen: „Genau. Wir. Das Meer. Wir.“ (S. 117)
Literatur
Gabi Kreslehner: PaulaPaulTom ans Meer. Innsbruck: Tyrolia, 2016.