Poetiken der Verstörung

Ingrid Tomkowiak im Gespräch mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher:

Christine Lötscher

Christine Lötscher

Wir leben ja in krisengeschüttelten Zeiten. Wie wirkt sich das in populären Literaturen und Medienprodukten aus?

Seit einigen Jahren lässt sich in der Populärkultur eine zunehmende Tendenz zu Poetiken der Verstörung beobachten. Darin verdichtet sich ein Erleben der Gegenwart, wie es sich in politischen, ökonomischen und kulturkritischen Diskursen artikuliert, wenn von Unübersichtlichkeit und Alternativlosigkeit die Rede ist; von einem Wirtschaftssystem, das sich vom Einfluss der Politik abgelöst und auf unheimliche Weise selbstständig gemacht hat, von Algorithmen, die ohne menschliche Kontrolle Entscheidungen fällen, und von der Macht der Social Media, die unter Umständen zu Wahl- und Abstimmungsresultaten führt, die sämtlichen wissenschaftlichen Prognosen widersprechen. Schriftliche Texte, Filme, TV-Serien und Videospiele verschiedener Genres inszenieren Bedrohungen, die sich dramatisch auf die Figuren und die Gemeinschaft, in der diese leben, auswirken, deren Ursprung sich jedoch nicht präzise fassen lässt.

Schon Jahre bevor mit der Präsidentschaft Donald Trumps die Ära der sogenannten alternativen Fakten und der verbissen zelebrierten Unvernunft anbrach, liess sich in populären Literaturen und Medien der Versuch beobachten, ein gemeinschaftlich geteiltes Gefühl der Krise, der radikalen Verunsicherung, der Desorientierung und Verstörung zu gestalten. Den Beginn dieser Tendenz könnte man wohl bei der Finanzkrise von 2008 ansetzen. In deren Folge stellte sich eine kollektive, globale Erfahrung von Ohnmacht ein. Während die politische Rhetorik von Sich-Nichts-Mehr-Leisten-Können und der Alternativlosigkeit handfester Sparpolitik bestimmt wurde, beschäftigten parallel dazu Tendenzen des Posthumanismus, wie sie in Technologie, Philosophie und Kunst bereits bestanden, nun auch die populärkulturelle Imagination und tun dies bis heute. Dabei gestalten Texte, Filme, TV-Serien und Videospiele das sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Ohnmacht und Verstörung in den letzten Jahren auf eine auffallend verwandte Weise. So operieren sie mit bestimmten Genre-Modalitäten, um fiktive ökonomische, gesellschaftliche und politische Realitäten medienästhetisch so zu gestalten, dass sie uns zugleich vertraut und fremd erscheinen. Das gilt für Medien, die sich an Erwachsene richten, in einem besonderen Mass aber für solche, die Kinder und vor allem Jugendliche als Zielpublikum haben. Hier sorgt das doppelte – literarische und pädagogische – Handlungssystem für eine starke Affinität zu aktuellen Themen und Diskursen; insbesondere, wenn es um Fragen nach zukünftigen Gesellschaftsentwürfen und jugendlicher Handlungsmacht geht.

Es handelt sich hier also um ästhetische Spielarten des Politischen.

Es geht um ein Ensemble von kulturellen Phantasmen aus wirtschaftlichen, politischen und technologischen Horrorszenarien, dessen zentrales Narrativ das des ökonomischen Menschen ist. Entscheidend ist, dass sich Verstörung affektpoetisch und affektrhetorisch in der Art manifestiert, wie das jeweilige mediale Dispositiv zum Einsatz kommt. Texte zum Beispiel arbeiten mit zentrifugalen, kaleidoskopartigen Fokalisierungen und, ebenso wie audiovisuelle Medien, mit widersprüchlichen, unvereinbaren Genremodalitäten, welche das Publikum zwingen, aufgespaltene Zuschauerpositionen einzunehmen. In der Netflix-Serie Stranger Things (2016-) zum Beispiel entsteht eine Atmosphäre von Verstörung durch schnelle Schnitte zwischen einer vermeintlich heilen Welt, in der die Erwachsenen ihre Kinder beschützen, und der unheimlichen Schattenwelt, dem Upside Down, dessen Funktionsweise niemand versteht. So entsteht für Momente ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Klaustrophobie.

Wenn populäre Medien im Hinblick auf ihre ästhetische und poetologische Gestaltung von Verstörung analysiert werden, lässt sich mit Hilfe von politischen Theorien zur Gemeinschaft herausarbeiten, wie die einzelnen Texte, Filme, TV-Serien und Video-Spiele die vielbeschworene Krise des Politischen sowie den Menschen und die Gemeinschaft denken. Als These liesse sich formulieren, dass die Modalitäten der Verstörung vom möglichen Ende einer gesellschaftlichen Ordnung erzählen, die auf den Prinzipien einer liberalen, säkularen Demokratie beruht und in der das permanente Aushandeln von Positionen ausgehalten werden muss.

Verstörung und Verunsicherung als affektpoetische Strategie sind ja eigentlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.

Nein, es gibt sie bereits in der Literatur der Antike. Neu ist die Tendenz zur vollkommenen Auflösung von Wertesystemen und Wissensordnungen sowie die Angstlust bei der Vorstellung von einer Welt ohne menschliche Handlungsmacht. Diese schlägt sich in der Populärkultur, aber auch in literarischen Texten nieder; gerade in der deutschsprachigen bzw. Schweizer Gegenwartsliteratur suchen Clemens Setz, Christian Kracht, Jonas Lüscher und Lukas Bärfuss nach einer Sprache für dieses Gefühl der Verstörung, wobei der jüngste Roman von Bärfuss die Verstörung durch seinen Titel (hagard, frz. für verstört) explizit zum Thema macht und das Phänomen auf einer Metaebene behandelt.

Science Fiction interessiert sich derzeit stark für trans- und posthumane Entwürfe; hier ergeben sich auch Berührungspunkte mit literarischen Imaginationen des ausserirdischen Raumes. In Mystery-TV-Serien zieht sich das Phänomen der Verstörung durch die Geschichte des Genres und ist z.B. in der Poetik von David Lynchs Twin Peaks (1990-2017) wirksam; in der 2017 ausgestrahlten dritten Staffel steigert es sich noch einmal beinahe explosionsartig. Im Bereich der Kinder- und Jugendmedien wird das Spannungsfeld zwischen Verstörung und der Gestaltung von jugendlicher Handlungsmacht im boomenden Bereich der Dystopien bzw. der Future Fiction ausgelotet. Im Game-Bereich kommen gerade in jüngster Zeit immer mehr Spiele auf den Markt, welche die Handlungsfähigkeit der Spielenden unterlaufen und/oder, im Bereich Virtual Reality, explizit eine ästhetische Erfahrung der Desorientierung anstreben.

Wie setzt sich die wissenschaftliche Forschung mit diesen ästhetischen Formulierungen der Verstörung auseinander?

In der kulturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur gibt es den Bereich des Spekulativen Realismus, dessen theoretische Ansätze in der Literatur- und der Filmwissenschaft zu einem neuen Verständnis der Ästhetik einzelner Texte und Filme bzw. Genres mit herangezogen werden. Zum Motiv bzw. Prinzip der Störung, inbesondere auch in Kinder- und Jugendmedien, wurde von literaturwissenschaftlicher Seite vor allem von Carsten Gansel gearbeitet. Dass Verstörung sich zu einem verbreiteten, transmedial auftretenden Phänomen der Populärkultur entwickelt hat, ist allerdings eine neue Beobachtung. Die Forschergruppe „The Principle of Disruption“ der TU Dresden interessiert sich für die Störung als ereignishaften Einschnitt, während das, was ich als Ökonomien der Verstörung bezeichnen möchte, im Alltag gerade nicht oder nur schleichend wahrgenommen werden kann, sondern erst durch die mediale Gestaltung erfahrbar wird.

Neben Untersuchungen zur Affektrhetorik der Verunsicherung und Irritation in unterschiedlichen Medien liefert besonders auch die Phantastikforschung wichtige Impulse, insbesondere jene zu Horror und Mystery – ein Genre, in dem sich Elemente von übernatürlichem Horror, Krimi und Thriller vermischen – sowie zum Paranoia-Genre und der dissoziierten Wahrnehmung, die es evoziert. In den Game Studies ist die Übermacht des (Horror-)Spiels über die Spielenden ein Thema.

Du hast jetzt einige Genres genannt, in denen Verstörung und Desorientierung schon immer zu den Genremodalitäten gehörten. Würde auch die Weird Tale hierhergehören?

Ja, die Weird Tale verdient besondere Berücksichtigung. Der Kern der Poetik dieses stark von H.P. Lovecraft geprägten Genres zwischen Horror, Science Fiction und philosophischer Spekulation besteht in der Gestaltung von kosmischer Angst, die immer auch mit Lustgefühlen angesichts der radikalen Auflösung aller Ordnungssysteme verbunden ist und insofern Berührungspunkte mit Poetiken der Verstörung aufweist. Seit den 1990er-Jahren erlebt die Weird Tale, die bis dahin ein subkulturelles Fan-Phänomen war, ein Revival in Form des New Weird, das sich transmedial ausbreitet und in TV-Serien wie True Detective , Fargo oder Stranger Things nun zum Mainstream geworden ist.

Verstörung ist quer durch die Genres und die Zielgruppen zu beobachten.

Die Werke operieren einerseits dezidiert innerhalb des Genresystems, beziehen sich also explizit auf Genregeschichte, aber nur, um auch hier Grenzen aufzulösen und, zum Teil in experimenteller Weise, neue Verbindungen zu erproben. Es gibt also eine besondere Affinität zur Überlagerung und Entgrenzung von Genres. Ich würde deshalb auf einem Genrebegriff aufbauen, der sich anders als gängige Theorien gerade nicht an einer taxonomischen, auf Abgrenzung zielenden Definition von Horror, Krimi, Thriller, Paranoia etc. orientiert. Genre würde ich vielmehr von seiner Affektpoetik her verstehen, als eine gleichsam rituelle Praxis, die darauf abzielt, der Gestalt kollektiver Erfahrungsmuster in den biografischen Rhythmen der einzelnen Zuschauer Geltung zu verschaffen und umgekehrt.

Dabei lassen sich sechs Typen der Poetik der Verstörung bestimmen: (1) Auflösung der raumzeitlichen Ordnung des Bildraums, z.B. in True Detective (HBO 2014-); (2) Verunmöglichung einer eindeutigen (stabilen) Bezugnahme auf Figuren und Handlung in ethischer, moralischer, politischer Hinsicht, z.B. in Mystery-Serien wie Broadchurch (2013-) sowie Thrillern für Jugendliche wie Jay Ashers Roman 13 Reasons Why (2017-) und dessen Adaption als TV-Serie; (3) Spannung zwischen Überdeterminierung und Entleerung: Sprachliche bzw. audiovisuelle Bilder sind so stark mit Bedeutung und (populär)kulturellen Bezügen aufgeladen, dass sie gar nichts mehr zu bedeuten scheinen, z.B. der Horrorfilm 31 von Rob Zombie (2016) oder das Bilderbuch Arno und die Festgesellschaft mit beschränkter Haftung von Nikolaus Heidelbach (2016); (4) Widerspruch zwischen dem, was man sieht und was einem explizit von einer Erzählerstimme oder Figur erläutert wird, z.B. in der BBC-Serie Sherlock (2010-); (5) Genremodalitäten werden in der Inszenierung aufgegriffen, aber nicht mit der üblicherweise mit dem Genre verbundenen Affektpoetik kombiniert, z.B. in William Friedkins Killer Joe (2011) oder Daniel Barbers The Keeping Room (2014); (6) Hermetik: Ein Bedrohungs- und Ohnmachtsgefühl entsteht durch den Einsatz von Genremodalitäten; die innere Gesetzmässigkeit der Welt ist so gestaltet, dass die ZuschauerInnen sie als vollkommen unberechenbar erleben, z.B. in Christoph Ransmayrs Roman Cox oder Lauf der Zeit (2016) oder die britische TV-Serie Utopia (2013-).

Was interessiert dich besonders in diesem Zusammenhang?

Die Affektpoetik der Desorientierung und Verstörung zielt nicht etwa nur auf Angst und Irritation, sondern funktioniert bipolar: Auf der einen Seite ist die existentielle Angst, auf der anderen die Lust an der eigenen Auflösung, am eigenen Verschwinden. In der Populärkultur der Gegenwart wird diese Erfahrung nicht mehr individualpsychologisch – mit Neurosen oder Traumata – begründet. Die Bedrohung kommt weder von aussen noch von innen, weil auch diese Trennlinie nicht mehr existiert. Alles – die Welt der Menschen, der Dinge, der Technologie etc. – scheint auf eine für den menschlichen Verstand unverständliche Weise miteinander verbunden und einer unkontrollierbaren Eigendynamik unterworfen zu sein.

Der gemeinsame Nenner lässt sich wie folgt beschreiben: Es wird der Versuch unternommen, die Grenze der menschlichen Fassungskraft, des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns als ästhetische Erfahrung zu gestalten. Dabei kommt eine ganze Reihe von affektrhetorischen Spielarten zum Einsatz: die Überwältigung (als Spielart des Erhabenen), das Unsagbare, der spekulative und kosmische Horror. Zu fragen ist, in welcher Weise sich die Medienprodukte zu Ideen von autoritären politischen Systemen verhalten, die eine Illusion von Sicherheit und Übersichtlichkeit bieten. Äußern sie sich kritisch oder affirmativ? Und wie stehen sie zu Entwürfen von einer posthumanen Gesellschaft?

In einer epistemologischen Dimension steht die Frage im Zentrum, wie sich der Mensch in einer Welt denken kann, in der er sich selbst keine Handlungsmacht und immer weniger Relevanz zuschreibt. Das Phänomen der Verstörung, das quer durch alle Medien und Genres der Populärkultur zu beobachten ist, erscheint in diesem Zusammenhang als paradigmatischer Gegenstand. Insbesondere der starke Fokus auf Kinder- und Jugendmedien als integraler Teil der Populärkultur der Gegenwart verspricht neue Erkenntnisse in Bezug auf Phantasmen von Gemeinschaft, Solidarität und Zukunft.

Vielen Dank, Christine Lötscher!

Dr. Christine Lötscher ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Lehrbeauftragte der Universität Zürich und zurzeit Fellow der Kollegforschergruppe Cinepoetics an der FU Berlin. 2014 erschien ihre Dissertation „Das Zauberbuch als Denkfigur. Lektüre, Medien und Wissen in der Fantasyliteratur für Jugendliche“. Außerdem arbeitet sie als freie Literatur- und Filmkritikerin und ist 2018 Mitglied der Jury für den Deutschen Buchpreis.

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