Auf Klassenfahrt gehen – im von Covid-19 geprägten Jahr 2020 ist diese Alltäglichkeit in fast schon utopische Ferne gerückt. Mit Tamara Bach kann man ein solches Abenteuer in Sankt Irgendwas aber immerhin literarisch erleben. Und wie! Dass Tamara Bachs Romane zu den Besten der gegenwärtigen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur gehören, zeigen diverse Preise und begeisterte Besprechungen, auch auf diesem Blog. Die Qualität der Romane liegt zum einen in Bachs untrüglichem Gespür für die Zwischentöne des Miteinanders und Themen, die keinen großen Knalleffekt haben, sondern feinfühlig das Erleben von Kindheit und Jugend ausleuchten. Zum anderen findet Bach immer wieder ausgeklügelte erzählerische Kniffe, um mit der Form der Romane zu spielen. Etwa ein Tage- und Drehbuch in Busfahrt mit Kuhn, eine Du-Konstruktion in Vierzehn, multiperspektivische Erzählstimmen in jetzt ist hier und was vom Sommer übrig ist oder eine unzuverlässige Erzählerin, die auf drei Zeitebenen springt in Marienbilder.
Reise, Reise … Jeder tut’s auf seine Weise
In Sankt Irgendwas wird nun auf zwei Ebenen erzählt. Das Gespräch einiger namenloser Schüler_innen, die sich auf dem Schulhof darüber austauschen, was wohl auf der Klassenfahrt der 10b Schlimmes passiert ist, rahmt das Geschehen der eigentlichen Reise. Bewusst wird bereits hier große Spannung aufgebaut, denn es ist klar: von einer Bombenexplosion bis hin zum Alkoholexzess wird der Klasse im Grunde alles zugetraut. Während Anfang und Schluss gekonnt eine mündliche Erzählsituation nachahmen, wird der Reisebericht hingegen in einer Art Protokollform geliefert, ergänzt durch E-Mails des Lehrers. Dies ist eine besonders interessante und ungewöhnliche erzählerische Konstruktion, die sich geschickt mit dem Inhalt verknüpft. Am Anfang werden abwechselnd Schüler_innen der Gruppe ausgewählt und müssen den jeweiligen Tagesablauf protokollieren. Geschieht dies zunächst mürrisch und in knappen Worten, eignet sich die Gruppe im weiteren Verlauf dieses Protokoll immer mehr an und nutzt dieses, um die Vorgaben des strengen Lehrers zu unterwandern. Da das Protokoll immer mehr kritische Kommentare über ihren Lehrer und Details enthält, die sie lieber nicht nach außen dringen lassen wollen, entscheiden sie sich schnell, das Schriftstück am Ende der Reise vor ihrem Lehrer verstecken zu wollen.
Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann
Das Verhältnis der Klasse zu ihrem Lehrer, der die Busfahrt irgendwo in den Süden Europas minutiös durchgetaktet und überfrachtet hat, wird zunehmend angespannter. Die Verdichtung der Tagesabläufe, die der Gruppe nicht eine Minute zur freien Verfügung lässt, spiegelt sich in der Protokollform wider. Jeder Tag beginnt mit der Auflistung der Uhrzeiten und der jeweiligen geplanten Aktivitität. Dass die Reise dabei vermutlich nach Italien geht und die bildungsbürgerliche Euphorie des Lehrers auf Goethes Spuren verortet ist, deutet sich immer wieder an: „Es ist erstaunlich, wie viel man über einen Brunnen sagen kann. Die ganze Weltgeschichte spiegelt sich in der Architektur dieses Brunnens. Goethe war auch mal hier. ‚Wo war der nicht‘, sagt die Kaiserin.“ (S. 55)
Die zweite Lehrerin, die Kaiserin, kann sich gegen ihren älteren Kollegen kaum durchsetzen und unweigerlich läuft die Missstimmung der Schüler_innen auf eine letzte große Rebellion zu, die so überraschend und schön ist, dass sie hier nicht verraten werden soll.
Es wurde Zeit, mal wieder loszufahren
Bach gelingt es außerordentlich gut, das zwischenmenschliche Miteinander in der Gruppe sowie die Spannungen gegenüber dem Lehrer nachzuzeichnen. Während in der Jugendliteratur häufig Jungen und Mädchen ausreißen und sich allein auf ein Abenteuer begeben, wird dieses Muster hier mit der Klassenfahrt bewusst aufgebrochen. Die Jugendlichen müssen sich nicht alleine bewähren, sondern mit den rigiden Vorgaben ihres Lehrers arrangieren. Der Sozialkosmos Schule in den damit verbundenen Hierarchien zwischen Lehrer und Schüler_innen markiert so den zentralen Konfliktpunkt, der facettenreich dargestellt wird.
Der Text ist außerdem gespickt mit unzähligen Details, Anspielungen auf Literatur und Musik sowie Beobachtungen, die lustig und berührend sind. Sankt Irgendwas ist perfekte Sommerlektüre, mit Komik, Spannung, aber auch leisen Zwischentönen, die sich in vielen Details andeuten. Denn auch der starke Zusammenhalt der Klasse hat einen Grund, der aber nicht platt ausformuliert wird. Der Roman lässt viele Leerstellen und Raum zum Selbernachdenken.
Literatur
Bach, Tamara: Sankt Irgendwas. Hamburg: Carlsen 2020.