Nic Scheffs Schizo
Nic Scheffs 2015 bei Fischer Taschenbuch erschienener Roman Schizo erzählt die Geschichte des an Schizophrenie erkrankten Miles und dessen Suche nach seinem vermissten Bruder Teddy. Die beiden Ereignisse sind eng miteinander verbunden: Der Tag von Miles erstem schizophrenen Anfall ist auch der Tag von Teddys Verschwinden. Die gesamte Familie war auf einem Strandausflug und als Miles eingesperrt in einer Toilettenkabine eine Panikattacke bekommt, konzentriert sich alles nur auf ihn. Als sich die Situation beruhigt hat, ist sein Bruder verschwunden, niemand weiß etwas. Eine Zeugin sagt aus, ein kleiner Junge sei zu einem Mann in ein Auto geklettert, andere vermuten, der Siebenjährige könnte ertrunken sein, auch wenn seine Leiche nie angeschwemmt wurde. Zwei Jahre später, zum Zeitpunkt der Handlung, haben alle die Hoffnung aufgegeben und die Suche eingestellt – alle außer Miles. Er gibt sich nicht nur die Schuld am Verschwinden seines Bruders, er ist auch davon überzeugt, dass er noch lebt. Nun muss er sich die Frage stellen, wie er in seinem Zustand diesen verhängnisvollen Tag wieder gutmachen kann.
Adoleszent und schizophren
Miles ist 16 und geht auf eine typische amerikanische Highschool (wie man sie durch viele Filme, Serien und Texte vermittelt bekommt). Im Alltagsleben seiner Mitschüler, Bekannten und Freunde geht es um Partys, Beziehungen, Sex und Drogen. Miles‘ Leben dreht sich genaugenommen um die gleichen Dinge, zusätzlich aber auch immer um seine Krankheit. Er hat wenige Freunde, viele halten ihn für sonderbar oder haben schlichtweg Angst vor ihm und seinen möglichen Anfällen. Miles ist sich dieser Ablehnung schmerzlich bewusst und verspürt den Wunsch, ein ganz ‚normaler‘ Teenager zu sein:
„Wenn man in der liberalsten Stadt des Landes aufwächst, gibt es nicht gerade viele Möglichkeiten, sich gegen irgendwas aufzulehnen. Du musst echt kreativ sein, wenn irgendwer deine verdammten Teenagerprobleme bemerkten soll. […] Vielleicht ist die Schizophrenie ja mein Mittelfinger gegen den Zustand der Welt. Aber ich schätze, heute ist es der größte Mittelfinger, einfach normal und angepasst zu sein. Also werde ich das mal versuchen, wenn ich kann.“ (S. 52).
Der Roman setzt einen interessanten Bezug zwischen Adoleszenz, Krankheit und dem Verhältnis von Anpassung und Rebellion. Die fehlende Möglichkeit zur jugendlichen Auflehnung in einer liberalen und am Jugendkult orientierten Gesellschaft wird in vielen zeitgenössischen Adoleszenzromanen beschrieben. Miles hätte mit seiner Schizophrenie ein starkes Mittel, um Andersartigkeit und Rebellion auch auszuleben, sieht dies aber verständlicherweise nicht als probate Möglichkeit in einer Peergroup, in der es eben doch auf Zugehörigkeit und Anpassung ankommt. Für ihn ist sein Wunsch, seine Adoleszenz auszuleben, ein besonders komplexes Unterfangen, bei dem der Zustand der Normalität außergewöhnlich und damit besonders erstrebenswert erscheint.
Die Erzählung zeigt in pointierten Szenen, wie sich diese Bereiche unweigerlich verschränken. Auf einer großen Party eines Freundes trifft Miles auf seine alte Jugendliebe Eliza, welche Jahre zuvor weggezogen war und jetzt wieder zurückgekehrt ist. Sie erinnert sich auch noch an Miles und es kommt zu einer Unterhaltung und sogar zu einem Kuss. Gleichzeitig aber machen Miles seine vielen Medikamente zu schaffen und er muss sich direkt nach dem Kuss mehrfach übergeben und bricht auf der Straße zusammen (S. 104). So endet der eigentlich schöne Augenblick für ihn in einer peinlichen Katastrophe, vor allem, weil am darauffolgenden Tag scheinbar die gesamte Schule über dieses Ereignis spricht. In dieser Szene werden die Elemente eines typischen Adoleszenzromans verwendet: erste Liebe, Party, Küsse, Peinlichkeiten. Selbst das mehrfache Übergeben im Moment des Glücks hätte Teil dieser Erzählkonstruktion sein können, hätte Miles sich zum Beispiel einfach nur stark betrunken. Seine Schizophrenie ist jedoch der Einbruch des Außergewöhnlichen in den Alltag, eine Gewalt, die nur schwer zu kontrollieren ist. Zu all dem kommt zusätzlich immer noch die Suche nach Miles Bruder, welche zu Beginn des Romans zwar weniger im Vordergrund steht, aber im Verlauf der Handlung immer mehr Fahrt aufnimmt.
Viel Klarheit im unzuverlässigen Erzählen
Dieser Kontrollverlust zeigt sich nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern auch in der Struktur der Erzählung. Schizo ist eine autodiegetische Erzählung, als Leser folgt man den Ereignissen aus der Sicht von Miles. Die Schizophrenie des Erzählers sorgt dabei für eine Art der unzuverlässigen Erzählung, man kann sich ständig die Frage stellen, welche Momente wirklich geschehen und welche nur eingebildet sind. In Miles Wahnvorstellungen spielen Krähen eine zentrale Rolle, denn diese waren es, die er bei seinem ersten Anfall als Angreifer glaubte. Wann immer er die Vögel nun also sieht oder hört, stellt er seine Wahrnehmung in Frage:
„Dicke, gelangweilt dreinblickende Krähen hocken oben in den kahlen Bäumen auf dem Mittelstreifen und putzen sich. Die Krähen auf den Telefonkabeln, den Dächern und Regenrinnen. Überall Krähen. Wieder. Immer. Immerzu erinnern sich mich daran, dass ich am Abgrund stehe – taumele – kämpfe, um hinter dem Wahn die Wirklichkeit zu fassen zu kriegen.“ (S. 74)
Die (oft auftauchenden) Krähen sind immer auch ein Signal an den Leser, die aktuell geschilderten Ereignisse zu hinterfragen. Wenn sich der Ich-Erzähler schon unsicher ist, ob alles um ihn herum so passiert, wie er es wahrnimmt, wie kann man sich dann selbst sicher sein? Dies gesagt, kann bemängelt werden, dass Schizo dieses spannende erzählerische Mittel weder konsequent noch gewinnbringend einsetzt. Viel zu oft werden Momente, die ungewiss aufgebaut werden, direkt im Anschluss in eindeutige Klarheit überführt, etwa, indem andere Figuren die Sichtweise des zweifelnden Erzählers bestätigen:
„‘Puh, guck mal, so viele Krähen.‘
Ich lasse die Jalousie fallen und trete vom Fenster zurück- ‚Was? Was hast du gesagt?‘
Sie lächelt entwaffnend. ‚Die Krähen. Das sind doch Krähen, oder? Oder sind das Raben?‘
Ich beuge mich zu ihr. ‚Du siehst sie auch?‘
Sie lacht. ‚Na klar, du Blödi.‘” (S. 113)
Statt einer ständigen erzählerischen Verunsicherung bekommt der Leser für einen Großteil des Textes das Gefühl vermittelt, ziemlich gut über die Ereignisse Bescheid zu wissen. Das ist nicht schlimm, verspielt aber ein Stilmittel, welches dem Roman wirkliche Innovation hätte bescheren können.
Ein überraschender Twist, der sich groß ankündigt
Das letztlich nur angedeutete Spiel mit der Ungewissheit stimmt die Leserschaft darauf ein, dass sich im Fortgang der Geschichte nicht alles so entwickeln wird, wie es zu Anfang scheint. Wie wird Miles Suche nach seinem verschwundenen Bruder ausgehen? Kommen er und Eliza wieder zusammen und könnte ihre Beziehung überhaupt längeren Bestand haben? Und wie wird sich Miles Krankheit entwickeln, die durch Medikamente zum Zeitpunkt der Geschichte mehr schlecht als recht in Zaum gehalten werden kann?
Es soll natürlich nicht verraten werden, wie genau die Erzählung ausgeht. Doch selbst der Klappentext verrät ja bereits, dass etwas ganz außergewöhnliches Geschehen wird: „Und so macht er sich heimlich auf die Suche, begleitet nur von den Stimmen in seinem Kopf … und er findet eine Wahrheit, die alles in Frage stellt, woran er je geglaubt hat.“ Der Spannungsaufbau auf dem Backcover des Buches hilft dem Verlauf der Handlung nicht unbedingt auf die Sprünge. Im Gegenteil: Da man als Leser bereits die Erwartungshaltung hat, dass etwas Unvorhergesehenes passieren wird, sucht man penibel nach Hinweisen, um sich vom Text nicht an der Nase herum führen zu lassen. Und diese Suche kann schnell erfolgreich sein, sobald man etwas von den Konventionen des Genres versteht (z.B. durch Intertexte wie Fight Club). Figuren verhalten sich in bestimmten Punkten besonders auffällig oder gehen betont unauffällig nicht auf Dinge ein, die Miles anspricht. Was es am Ende mit der alles in Frage stellenden Wahrheit auf sich hat, kann so früh im Text erahnt werden.
Schizo widmet sich als Roman dem interessanten Thema der Schizophrenie und verknüpft dies mit Handlungssträngen eines typischen Jugendromans. Der Text hat dort seine Stärken, wo diese beiden Erzählwelten sich gegenseitig beeinflussen und so Konventionen verschieben. Schwächen zeigen sich dagegen, sobald die Handlung zu einer Kriminalgeschichte wird. Dort offenbart Schizo teilweise große Lücken in der Logik und wirkt an manchen Stellen zu stereotyp. Zum Abschluss bleibt zu sagen, dass das überraschende Ende also vielleicht für manche Leser nicht überraschend sein mag, der Text aber dennoch lesenswerte Stellen beinhaltet. Vielleicht ist dies ja auch nur passend: Ein Text über Schizophrenie sollte wahrscheinlich möglichst viele Facetten zeigen.
Literatur
Sheff, Nic: Schizo. Trau niemandem. Vor allem nicht dir selbst. Aus dem Amerikanischen von Maren Illinger. Fischer Kinder- und Jugendtaschenbuch, Frankfurt 2015.