Felix Lobrechts 2018 bei Ullstein erschienener Debütroman Sonne und Beton ist eine zeitgenössische Milieustudie, die viel Aufmerksamkeit erzeugt hat. Die Erzählung dreht sich um Lukas und seine Freunde Gino, Julius und Sanchez, vier Jugendliche, die in der Berliner Gropiusstadt aufwachsen. Glaubhaft und mit Blick für Details schildert die Geschichte den Alltag zwischen Schule, Party und der Suche nach ein bisschen mehr Kohle. Der Klapptentext liest sich, als erzähle der Roman ein besonderes Ereignis im Leben der Figuren und eine Pressestimme verspricht ein “furioses Finale”. Warum dieses nur bedingt eingelöst wird und warum dies gar nicht schlimm ist, erklärt unsere Rezension.
Glaubhafte Jugendsprache
Versuchen sich deutschsprachige Autorinnen und Autoren an Jugendsprache, kommen dabei oft sehr fragwürdige Ergebnisse heraus. Gerade im Bereich des Adoleszenzromans wimmelt es vor Figuren, die ihren aktiven Wortschatz offenbar direkt aus den Listen zum Jugendwort des Jahres beziehen. Wirkt die Sprache der Figuren unglaubhaft, stellt man als Leser auch viel eher deren Motivationen und Handlungen in Frage, was wiederum eine direkte Auswirkung auf die Qualität der Erzählung hat.
Sonne und Beton gelingt es, Jugendsprache nicht nur zu einem zentralen Bestandteil des Romans zu machen, sondern auch, diese glaubhaft und authentisch zu inszenieren. Die Geschichte wird aus den Augen des autodiegetischen Erzählers des 15-jährigen Lukas präsentiert. Er spricht in einer seinem Alter und seiner Sozialisation angemessenen Sprache, sowohl in seiner Innensicht als auch bei gesprochenen Dialogen. Vergleicht man seine Worte mit denen seiner Freunde, fällt allerdings ein Unterschied auf:
“Wat war ‘n ditte?!”, prustet Sanchez. “Die Mische verwahr ick ma lieber”. Er nimmt Gino die Flasche aus der Hand.
Lobrecht 2018, S. 68f.
“Dicker, Dings, gib ihn ma noch ein Schluck, ja?”, sagt Julius und grinst.
“Loco, dein Ernst? Er torkelt doch jetz schon … Aber einer geht noch, ich schwöre.”
Sanchez zuckt mit den Schultern und hält Gino die Flasche hin. Der nimmt sie ohne Gegenwehr und trinkt.
“So, dann lass jetzt bis Rudower Straße vorlaufen und 171er nehmen bis Grenzallee!”, sage ich und stehe auf.
Im Gegensatz zu seiner Clique ist Lukas schweigsamer und nutzt vergleichsweise weniger Mündlichkeit. Dies kann mit seiner Funktion als Erzähler zusammenhängen. Da Lukas die Ereignisse schildert, muss er in eine beobachtende Haltung versetzt werden. Er agiert als teilnehmender Beobachter in seiner eigenen Peer-Group und nimmt sich daher oft zurück.
Klare Innenansichten
Auch als Erzähler agiert Lukas in einem eher schriftsprachlichen Duktus. Es kommt dabei allerdings nie der Eindruck auf, dass die Figur auf eine Art und Weise spricht, die für ihren Horizont unglaubwürdig wirkt. Schildert der Erzähler Ereignisse, lesen diese sich meist wie unmittelbare Szenenbeschreibungen.
Johannisthaler Chaussee stolpere ich die Treppen zur U-Bahn hinunter, meine Bahn steht gerade da. Ich überspringe die letzten beiden Stufen und zwänge mich noch in den Waggon, als die Türen sich schon schließen. Hechelnd und schwitzend stehe ich in der stickigen Bahn, alle starren mich an. Besonders die Jungs am anderen Ende des Waggons. Hoffentlich sind die nicht auf meiner Schule und kennen mich. Sieht aber eher so aus, als würden die ins Lipschitzbad wollen. Ich stütze mich mit den Händen auf den Knien ab, ringe nach Luft und wische mir den Schweiß von der Stirn. Ich schaue in die Spiegelung im Fenster. Mein komplettes Gesicht ist voller Staub und getrocknetem Blut, beide Augen sind blau.
Lobrecht 2018, S. 25.
Lukas beschreibt primär, was um ihn herum passiert. Dabei mischen sich immer wieder Bewertungen des Beobachteten in das Erzählte. Als Lesende erhält man so eine Innensicht auf die Figur, die Geschichte wird nicht nur durch seine Augen erzählt, sondern auch von ihr kommentiert, bewertet und reflektiert. Es zeigt sich immer wieder, dass Lukas ein guter Beobachter mit Blick für Details ist:
Cem bleibt neben mir stehen und starrt die Araber mit aufgerissenen Augen an, ohne zu blinzeln. Mit seinen eishellen Augen und den kleinen Pupillen unter den dicken schwarzen Augenbrauen sieht er völlig irre und unberechenbar aus.
Lobrecht 2018, S. 24.
Milieustudien
Lukas erzählerische Qualitäten eignen sich bestens dafür, als teilnehmender Beobachter seine eigene und die Geschichte seiner Peers zu beschreiben. Nicht nur werden die Ereignisse in glaubhafter und passender Weise erzählt, zusätzlich erhält man durch seine Introspektion einen tieferen Einblick in das Milieu. Sonne und Beton spielt im Verlauf einiger Berliner Sommerwochen und schildert das Leben in der Gropiusstadt. Dabei geht es um die typischen Erlebnisse 15-jähriger Schüler: Schule, Freizeit und Familie. Die Stadt selbst liefert die Struktur des Tagesablaufs, viel Zeit verbringen die Figuren einfach mit dem Weg zwischen verschiedenen Orten, im Bus, der Bahn oder zu Fuß. Der Roman beschreibt ein urbanes Milieu, von den Hochhäusern der Siedlung, in denen die Familien leben, über die Schule bis hin zu den städtischen Parks, die zwischen die Blocks gepfercht wurden.
Der Alltag der Gruppe um Lukas erscheint dabei wenig abwechslungsreich. Alle haben kaum Geld und auch nur wenige Ideen, was sie mit ihrer Zeit anfangen könnten. Ihr Tag besteht daher aus chillen, saufen und kiffen und der Frage danach, wo das Geld für Gras, Alkohol oder Mobilguthaben herkommen soll. Die Schule spielt zwar eine Rolle, wirkt aber mehr wie ein sozialer Treffpunkt und weniger wie eine verpflichtende Institution. Sonderlich gut aufgehoben wirken die Jugendlichen nirgends, sie haben keinen Ort, der nur für sie wäre. In ihren eigenen Wohnungen halten sie sich nur auf, wenn die Erziehungsberechtigten nicht daheim sind, im öffentlichen Raum sind sie maximal geduldet. Wollen sie mal auf eine richtige Party gehen, wird diese noch vor ihrem Eintreffen von der Polizei aufgelöst (S. 71f).
Tristesse Berlin
So trist, wie das Leben in der Stadt beschrieben wird, wirken auch die Perspektiven der Figuren. Sie alle gehen in die Schule mit dem höchsten Ausländeranteil des Viertels und auch wenn es nicht direkt ausgesprochen wird, so schreit jede dort spielende Szene nach sozialem Brennpunkt:
“Warte, warte! Ich mach Video”, ruft Sertac. Er holt sein Handy aus der Tasche, hält es auf Abdul und nickt. Abdul fängt an zu grinsen. “Willkommen bei Sportunterricht in unsrer Freistunde – heute: Tischtennis”, sagt er in die Kamera, dann nimmt er Anlauf und schmeißt den einen Tisch auf die übereinandergestapelten. Die anderen grölen, als fast alle Tische mit lautem Scheppern und Poltern herunterknallen.
Lobrecht 2018, S. 81.
Neben der wenig aussichtsreichen schulischen Perspektive können die Jungs auch von ihrer Familie nicht viel Unterstützung erwarten. Entweder sind die Eltern komplett abwesend (Julius zum Beispiel wohnt bei seinem älteren Bruder) oder alleinerziehend und mit schlechten Jobs versehen (wie im Fall von Lukas Vater oder Sanchez Mutter). Gino hat zwar noch beide Elternteile, doch sein Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker.
Durch die Beschreibung des Alltags im Viertel wird klar, dass im Leben von Lukas und seinen Freunden eigentlich keine positive Zukunft vorgezeichnet scheint. Große Pläne besprechen die Figuren auch nicht, in ihren Unterhaltungen geht es stets um kurzfristige Ereignisse, wie die nächste Party oder die Frage, wo das Geld für Klamotten herkommen könnte. Es scheint, als hätten sich die Jugendlichen bereits mit ihrem Status abgefunden oder als hätten sie niemals die Ressourcen erlernt, diesen kritisch zu hinterfragen.
Unterlaufene Erwartungshaltungen
Um einmal an viel Geld zu kommen, entscheidet sich die Clique, die neuen Rechner an Lukas Schule zu klauen. Trotz eines absolut naiven Vorgehens gelingt es ihnen, einige Bildschirme und Rechner zu stehlen und diese bei Julius Bruder unterzustellen. Ihre vage Idee ist es, die Elektronik schwarz zu verkaufen. Doch jeder in der Schule und im Viertel bekommt von dem Raub mit, schnell fällt der Verdacht nicht nur auf die Schüler, sonst sogar spezifisch auf Lukas’ Klasse. Lukas Innensicht kreist nur noch um den Diebstahl und die Schuldfrage. Es erscheint fast unvermeidlich, dass er und seine Freunde auffliegen könnten. Doch am Ende wird diese Erwartung nicht eingelöst und die Gruppe kommt ungeschoren davon: Einige wenige Modelle können sie verkaufen, den Rest klaut eine Bande.
Diese antiklimaktische Auflösung des Diebstahls steht exemplarisch für viele Ereignisse im Roman. Beispielsweise hat Lukas nach einer Schlägerei zwischen zwei verfeindeten Gruppen Angst, wiedererkannt zu werden, doch alle anderen Beteiligten haben den Vorfall schnell wieder vergessen. Dieser Umgang mit Ereignissen ist ein zentrales Merkmal der Erzählung. Die Andeutung größerer Handlungsstränge, die letztlich nicht eingelöst werden, bezieht sich auf die Perspektivlosigkeit der Figuren. So wie die Jugendlichen keine nennenswerte zukunftsfähige Vision haben, so wenig spielen auch ihre Taten eine Rolle. Ihrer Umwelt sind Lukas und seine Freunde ziemlich egal, niemand erwartet etwas von ihnen, für niemanden spielen sie eine große Rolle. Dies gilt besonders für Lukas, der aufgrund seiner Nationalität noch nicht einmal unter dem rassistischen Generalverdacht des Diebstahls steht, was deutlich wird, als er zum Vertrauenslehrer gerufen und befragt wird. Dieser verdächtigt pauschal Schüler mit Migrationshintergrund und möchte den deutschen Lukas zu seinem Komplizen machen (vgl. Lobrecht 2019, S. 194)
Wo es wehtut
Immer wieder macht der Roman deutlich, dass die Jugendlichen keine Fürsprecher haben, die strukturell etwas an ihrer Chancenlosgkeit ändern könnten. Institutionen haben sie bereits abgeschrieben, die Familien sind dysfunktional oder machtlos und die Peer-Group hängt gemeinsam im niedrigen sozialen Status fest. Auch der Ich-Erzähler ist kein Held, der aus dieser Logik ausbricht, sondern nur ein Junge wie jeder andere auch. Das Milieu, so macht die Geschichte immer wieder deutlich, triumphiert über Einzelschicksale.
Lobrechts Sonne und Beton unterscheidet sich in bedeutsamer Weise vom Einheitsbrei deutschsprachiger Adoleszenzromane. Der Text bietet kein Happy-End und keinen Ausweg, er verurteilt und dämonisiert aber auch nicht. Seine Figuren sind keine Platzhalter für ein bestimmtes Thema oder für ein pädagogisches Erziehungsideal, sondern einfach Individuen, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeit in ihrem Milieu bewegen. Lobrecht liefert damit einen Roman, der ein deutsches Milieu in einer Authentizität betrachtet, wie es etwa Richard Milward mit Ten Storey Love Song für England gemacht hat. Ob das auf dem Klappentext angepriesene “furiose Finale” nun eingelöst ist, müssen Leser_innen für sich selbst entscheiden. Wichtiger ist, dass es auf dieses Finale eigentlich gar nicht ankommt, sondern der Text von Anfang bis Ende eine klare Idee verfolgt und diese stimmig und glaubhaft auserzählt.
Literatur
Lobrecht, Felix: Sonne und Beton. 8. Auflage. Berlin: Ullstein Buchverlage 2018. Roman.