Schon nach wenigen Spielsekunden bereue ich die Wahl meiner aktuellen Spielfigur. Glaubte ich erst, dass ihr Riesenwuchs mir einen Vorteil gegen die zahlreichen Gegner bescheren würde, muss ich jetzt feststellen, dass sie eine enorme Zielscheibe für die umherfliegenden Geschosse abgibt. Da sie zudem noch sehr vergesslich ist, geht ihr Schutzzauber in genau den falschen Situationen mächtig schief. Diese unglückliche Zusammenfügung von Eigenschaften führt letztlich auch zu einem schnellen Ende im gerade erst betretenen Dungeon. Aber egal, denn die nächste Generation in einer Reihe von wagemutigen Helden und Heldinnen steht bereits in den Startlöchern.
Die Qual der Wahl
Das eben beschriebene Abenteuer ereignete sich in Rouge Legacy, einem von Cellar Door Games 2013 entwickeltem Dungeoncrawler. Wie sein Name bereits andeutet, enthält das Spiel Elemente des Roguelike-Genres. Dies bedeutet, dass gewisse Teile des Spiels immer wieder durch einen Zufallsgenerator neu zusammengewürfelt werden und so Abwechslung bieten. Zu Beginn eines Quests entscheidet man sich als Spieler für einen von drei zufällig bereit gestellten Helden. Diese unterscheiden sich grundlegend nach Klassen, wie zum Beispiel dem Ritter, dem Barbaren oder dem Magier. Jede Klasse hat ihre Vor- und Nachteile. Magier verfügen klassischerweise über einen starken Zauber, den sie aufgrund hoher Manavorräte oft einsetzen können, sind dafür aber eher schwach auf der Brust und verkraften nur wenige Treffer. Barbaren dagegen mähen ihre Gegner mit starken Nahkampfangriffen nieder, halten sich aber nicht lange mit den Feinheiten von filigranen Zaubern auf.
Nach der Wahl der Spielfigur geht es in das zufallsgenerierte Dungeon, in dem es Gegner zu besiegen, Fallen zu umgehen und Truhen zu plündern gibt. Verliert man all seine Leben, stirbt man und die Spielfigur geht in die Ahnentafel ein. Jeder Held und jede Heldin tritt quasi die Nachfolge, also die ‘Legacy’, seines Vorgängers an. Sonderlich viel Einfluss hat dieses Feature allerdings nicht, es ist vielmehr eine einfache Erklärung dafür, wieso man nicht dauerhaft mit dem gleichen Avatar spielt. Das Spiel beginnt also von vorne, man hat erneut die Wahl zwischen drei Helden und kommt in ein neues Dungeon. Das im vorherigen Durchlauf eingenommene Gold fließt in den Ausbau des eigenen Schlosses, welches der Spielfigur bessere Werte und Handlanger wie den Waffenschmied oder die Runenmagierin beschert. Sämtliche Reichtümer, die nicht direkt ausgegeben werden können, müssen an Charon, den Torwächter, gezahlt werden, um erneut Zutritt zum gegnerischen Schloss zu erhalten.
Der Reiz von Rogue Legacy liegt in seiner perfekten Gratwanderung zwischen Frustration und Belohnung. Jeder Fehler kann zum Tod des Helden führen und der Fortschritt ist dahin. Doch mit jeder Kiste, die einen 100er-Goldsack preisgibt, steigt das Gefühl, einen guten Lauf hinzulegen und dafür im Austausch bessere Charakterwerte zu bekommen.
Spiel mit Handicaps
Der wirklich interessante Faktor von Rogue Legacy ist jedoch eindeutig der besondere Twist, mit dem das Spiel das Roguelike-Genre nutzt. Nicht nur die Klassen und Dungeon-Layouts werden durcheinandergewürfelt, sondern wie erwähnt auch die speziellen Charakterzüge, die ‘Traits’, von denen jede neue Spielfigur eine oder zwei haben kann. Diese können vorteilhaft sein, wie beispielsweise in Form einer robusten Physik, die den Widerstand steigert. Viel öfter jedoch beschert der Zufall den Spielfiguren auf den ersten Blick Nachteile und Schwächen, wie etwa Kurz- oder Weitsichtigkeit, Riesen- oder Zwergenwuchs oder auch ausgewachsene Geisteskrankheiten. Je nachdem, wie die Figuren bestückt sind, ändert sich die Spielmechanik. Ist man farbenblind, spielt man in schwarz-weiß, ist man kurzsichtig, verschwimmt die Bildschärfe an den Rändern des Bildschirms bis zur Unkenntlichkeit. Abstufungen zwischen den Charaktereigenschaften gibt es nicht, durch jede von ihnen ändert sich genau ein Spielelement, was das Spiel zwar verändert, aber nicht generell leichter oder schwerer macht.
Das Spiel wird durch diese Veränderungen oft fordernder, aber niemals unfair. Man ist gezwungen, sich in sehr kurzem Zeitraum auf die neuen Spielmechaniken einzustellen und daher mit jeder neuen Figur zu andauernder Adaption gezwungen. Die verschiedenen Eigenschaften sind dabei spielerisch ausgesprochen gelungen und oft humorvoll umgesetzt. Hat der Held Dyslexia, kann er tatsächlich nicht lesen, was dazu führt, dass Menüoptionen des Heads-up-Displays als wirres Kauderwelsch angezeigt werden. Die Entwickler haben in der Ausprägung der Traits ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Dies kann so weit gehen, dass der komplette Bildschirm auf den Kopf gestellt wird, inklusive aller Menüs und Räume.
Spottet das Spiel?
Bei einem solchen Umgang mit Charaktereigenschaften, die für Menschen in der Realität eine große Behinderung darstellen können, stellt sich die Frage, ob die Darstellung nicht zu vereinfachend ist und damit das Thema eindimensional und zu platt angeht. Ist es eine Reduzierung von komplexen Krankheiten oder Behinderungen, wenn nur ein einziger (allgemein bekannter) Aspekt ins Spiel übernommen wird? Zur Beantwortung dieser Frage hilft es allerdings, sich die oben erwähnte Grundstruktur des Spiels ins Gedächtnis zu rufen. Rogue Legacy ist ein Dungeon-Crawler, welches primär Jump’n’Run und Roguelike-Elemente miteinander verknüpft. Die verschiedenen Charaktereigenschaften bringen eine Varianz ins Spiel, sind aber keineswegs dessen vordergründiges Merkmal. Kritisch kann man hier einerseits anmerken, dass damit potientiell Behinderungen und Krankheiten genutzt werden, um Abwechslung in einen ansonsten wenig innovativen Titel zu bringen. Lobend kann aber andererseits Erwähnung finden, dass das Thema auf eine zwar humorvolle, aber keinesfalls beleidigende Weise überhaupt gezeigt und bearbeitet wird. Devianz (sowohl in körperlicher wie auch geistiger Form) ist in Spielen und vor allem deren spielbaren Hauptfiguren immer noch selten anzutreffen. Figuren mit abweichenden Charaktereigenschaften auf diese simple Weise zu zeigen, kann daher durchaus als noch nicht weit genug gehender Schritt gesehen werden; ein Schritt in die richtige Richtung bleibt es dennoch allemal.
Schwächen als Bereicherungen
Die Charakterzüge der Spielfiguren geben Rogue Legacy seine Würze, sie bringen eine einzigartige Varianz ins Spiel. Interessant ist dabei vor allem auch die Lesart, die der Umgang mit den gehandicapten Figuren nahelegt. Egal wie stark das Wesen eines Helden das Spiel beeinflusst, es wird dabei nie als eindeutiger Nachteil dargestellt. Oft eröffnen sich dadurch sogar ungeahnte Vorteile: Zwergenwüchsige Charaktere haben Zutritt zu kleinen Geheimgängen und finden dort wertvolle Truhen. Autisten merken sich die Position aller Gegner, sobald man einen Raum einmal betreten hat. Feinde werden dann als rote Punkte auf dem Radar angezeigt und erleichtern das Fortkommen immens. Viele andere Eigenschaften haben keinen spielerlischen Nachteil, sondern verändern die Inszenierung. Wird etwa eine Figur mit Tourette-Syndrom von einem Gegner getroffen, flucht sie in Form einer „#*!%“-Sprechblase.
Das Spiel zeigt vor allem, dass Andersartigkeit keinen Nachteil darstellen muss, sondern eher ein hinzunehmender Fakt ist, auf den man sich einstellen kann und muss. Für den Spieler wird Rogue Legacy so zu einer ständigen Übung in Anpassung und Toleranz. Man lernt, mit den unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenheiten seiner Spielfiguren auszukommen und man begint mit der Zeit, die Stärken ihrer Schwächen zu nutzen. Der Titel führt so, ohne es wirklich direkt aussprechen zu müssen, eine Diskussion über Devianz und Akzeptanz. Keine der Figuren wird bevor- oder benachteiligt. Natürlich werden Spieler Präferenzen entwickeln, welche Kombinationen sie eher bevorzugen oder ablehnen, jedoch liegt diese Wahl nur in ihnen selbst und ihrem Spielstil und ist nicht vorgegeben. Verschiedene Schwierigkeitsgrade gibt es übrigens nichts zur Auswahl, die Herausforderung jedes Durchlaufs wird nur durch die Wahl der Eigenschaften, Charakterklassen, Fähigkeiten und Ausrüstung bestimmt.
Mit Rogue Legacy ist ein Werk entstanden, welches sich spielerisch in die Debatte um Devianz in der Gesellschaft einklinkt. Dies geschieht mit einer solchen Leichtigkeit, dass die Frage nach der ‘Schwere’ der Schwäche keine Rolle mehr spielt. Will man das Spiel meistern, muss man lernen, mit jeder Ausprägung zurecht zu kommen. Das Spiel selbst, also das Fortkommen im Dungeon und die damit verbundene Verbesserung des eigenen Helden steht dabei immer im Vordergrund, wird aber gleichermaßen unaufdringlich und untrennbar mit dem Konzept der Andersartigkeit verbunden.
Ein abschließendes Beispiel kann dieses Verfahren noch einmal besonders deutlich machen: Immer mal wieder sind manche Figuren in ihrer sexuellen Orientierung lesbisch oder schwul, zusätzlich zu ihren anderen Charaktereigenschaften. Diese Information bekommt man im Auswahlbildschirm der Helden. Für einen Großteil der Spielmechanik hat diese Eigenschaft keinerlei Auswirkungen, sie bestimmt lediglich, ob einen im finalen Raum des Dungeons ein anders- oder gleichgeschlechtlicher Liebhaber erwartet, den man in guter Rittertradition retten wird. Eine charmantere Variante, darauf hinzuweisen, dass unterschiedliche Orientierungen, Eigenschaften und Fähigkeiten grundlegend gleichwertig sind, ist mir bisher in keinem Spiel untergekommen.
Medien
Rogue Legacy. Cellar Door Games. 2013. Computerspiel.