„Classic tale – new twist“ – so wirbt der internationale Trailer zu Tommy Wirkolas Hansel and Gretel: Witch Hunter (2013) und macht durch seine Bilder klar, dass in dem 88 (oder 98 beim Unrated Cut) Minuten langen Film vor allem schnelles Actionkino zu erwarten ist. In schnellen Schnitten sieht man die beiden erwachsenen Hexenjäger Hänsel und Gretel ein dutzend verschiedene Waffen von der Armbrust bis zur Minigun auf eine Handvoll Hexen abfeuern.
Der Film ist zu großen Teilen eine Weitererzählung des Lebens von Hänsel und Gretel, nachdem diese in ihrer Kindheit der Hexe im Wald entkommen sind. Anders als in der Textvorlage finden die beiden Kinder nicht mehr nach Hause, sondern ziehen in die Welt hinaus und werden bekannte und gefürchtete Hexenjäger. Auch die restliche Handlung weicht deutlich von der Märchenvorlage ab. So ist Hänsel und Gretels Mutter in dieser Erzählung nicht etwa eine unbarmherzige Person, die nur an ihr eigenes Wohl denkt, sondern eine weiße Hexe, welche ihre Kinder aus Liebe wegschicken muss, damit die deutlich häufiger auftretenden schwarzen Hexen, sie nicht in die Finger bekommen können. Dieser zur Textvorlage stark veränderte Plotpunkt spielt einen wichtigen wie vorhersehbaren Part in der Handlung und rückt vor allem Gretel als Tochter einer der seltenen weißen (und natürlich guten) Hexen ins Fadenkreuz der Antagonistinnen. Die Narration bleibt dabei simpel und linear, die ‚überraschenden’ Wendungen kündigen sich meist Minuten vorher an. Dies fällt jedoch zu keiner Zeit wirklich negativ auf, macht der Film im Rahmen seiner Erzählung doch überdeutlicht, dass jede neue Entwicklung nur dazu nutzen soll, Hänsel und Gretel weitere Teile ihres Waffenarsenals abfeuern zu lassen.
Hexenjäger als Kinderretter
Die Haupthandlung in aller Kürze: Das Geschwisterpaar zieht es nach Augsburg, dort erhalten sie gegen den Willen des unsympathischen Sheriffs den Auftrag, das Rätsel um massive Kindesentführungen aufzulösen. In der Ermittlungsphase stoßen Hänsel und Gretel schnell auf ein Trio aus Hexen, angeführt von der Oberhexe Muriel. Diese planen, in der traditionellen Walpurgisnacht einen Trank zu brauen, der sie unverwundbar und damit auch unsterblich machen soll. Für diesen brauchen sie neben sehr vielen Kindesopfern auch das Blut einer weißen Hexe. Gretel als Tochter einer eben solchen gerät damit ins Fadenkreuz, wird letztlich auch erfolgreich von den Hexen entführt und muss zum Schluss von ihrem Bruder gerettet werden. Hänsel zur Seite stehen dabei allerdings einige Verbündete zur Seite, die im Laufe der Geschichte zur Gruppe gestoßen sind. Im großen Finale kommt es zu einer erfolgreichen Rettung Gretels und der entführten Kinder sowie zu einem Berg toter Hexen. Lediglich Muriel als mächtigste Hexe kann den Geschwistern eine nennenswerte Gegenwehr bieten und entkommt zum Ort des letzten Aufeinandertreffens, dem Hexenhaus, in dem Hänsel und Gretel als Kinder gefangen gehalten wurden. Zum Schluss triumphieren die Helden und ziehen in ihrer nun vergrößerten Gruppe wieder in die Welt hinaus, ihr Auftrag in Augsburg ist beendet. Der Film als Ganzes ist seichte und unterhaltsame Kost, die keiner tieferen Interpretation bedarf. Wirklich interessant und kreativ ist dagegen ein Detail, welches für die Handlung des Films auf den ersten Blick nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint: Die Darstellung von Süßigkeiten.
Süßes ist Saures
Die visuelle Darstellung von Süßigkeiten gerät wie der gesamte Film düster und dreckig. Das Zuckerwerk des Hexenhäuschens wirkt geradezu ekelhaft. Die Bonbonmasse, die wie das Maul eines Tieres die niedrige Tür umgibt, sieht alt und schleimig aus, auf der Tür selbst sind Mandelsplitter wie Reißzähne inszeniert. Es wird gezeigt, wie Hänsel sich eine Handvoll der klebrigen Bonbonmasse in den Mund stopft, Gretel bricht die Spitze eines Zuckerzackens ab und dickflüssiger weißer Zuckersud läuft wie Blut aus einer Wunde aus ihm heraus. Hier wirkt das Naschen der Kinder wirklich wie eine Notwendigkeit gegen das Verhungern, auch wenn sie sich dabei verstohlen zugrinsen. Nimmt man die grimmsche Version von Hänsel und Gretel als Vergleichstext, wird in diesem das Häuschen der Hexe verführerisch dargestellt: „[…] so sahen sie, daß das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker. „Da wollen wir uns dranmachen“, sprach Hänsel, „und eine gesegnete Mahlzeit halten. […]“” (Grimm, S. 104).
Auch das anschließende Mästen Hänsels ist von Anfang an ein gewaltsamer Akt, in dem der Film grafisch deutlich macht, dass die Süßigkeiten dem Kind schaden. Der Part des Grimmschen Textes, in dem „gutes Essen aufgetragen [ward], Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse“ (Grimm, S. 105), wird gleich übersprungen. An genau diesem Punkt denkt Wirkolas Film das Märchen konsequent weiter: Hänsel, durch seine Gefangenschaft als Kind in Mitleidenschaft geraten, hat als Erwachsener Diabetes und muss sich in regelmäßigen Abständen ein Gegenmittel spritzen. Er selbst stellt einen Kausalzusammenhang zwischen den Süßigkeiten und seiner Krankheit her: „When I was a kid, a witch made me eat so much candy, I got sick. Something happened to me. I have to take this injection every few hours or else I die.” Süßigkeiten werden im Film also nicht nur auf der Bildebene als schlecht dargestellt, sondern auch verbal so bezeichnet. Hänsels nicht gerade komplexe Beschreibung seines Krankheitsbildes wird zusätzlich von der weißen Hexe Mina bestätigt, welche nachweislich in der Heilkunde bewandert ist, gleichzeitig aber auch kein Heilmittel für dieses Problem finden kann.
“Don’t eat the fucking candy!”
Süßes macht von der Textvorlage des Märchens zum dieser Filmversion von Hänsel und Gretel eine semantische Wandlung durch: Auf mehreren Ebenen werden die ursprünglich ‚guten’ zu ‚schlechten’ Süßigkeiten transformiert. In Wirkolas Version der Erzählung scheint alles Süße intrinsisch schlecht zu sein. Auf der Bildebene ruft es Ekel und Assoziationen zu Monstern und Horrorgestalten hervor, auf der Textebene wird es wo es nur geht schlechtgemacht. Obwohl das Thema keineswegs im Vordergrund steht, kann man durchaus feststellen, dass die Süßigkeiten eine der wirksamsten Waffen der Hexen zu sein scheinen. Denn natürlich ereilt Hänsel pünktlich zum Endkampf ein durch seine Krankheit ausgelöster Schwächeanfall, welcher die Hexen beinahe triumphieren lässt. In anderen Auseinandersetzungen mit einem nicht geschwächten Hänsel sind die Hexen dagegen meistens hoffnungslos unterlegen.
Wie zentral die Thematik ist, zeigt sich in der deutschen Synchronisation des Films. Ein einziger Satz wird auch von den deutschen Sprechern erneut auf Englisch eingesprochen: „Was immer ihr tut – don’t eat the fucking candy!“ Die wenigen Momente, in denen der Film die Verbindung zwischen bösen Hexen und Süßigkeiten herstellt, wirken umso auffälliger, sind sie doch immer mit einem Moment der Schwäche der Helden verbunden. Die Thematisierung von Süßem in Hansel & Gretel: Witch Hunter ist damit nicht nur eine interessante Fortschreibung der Märchenvorlage, sondern auch ein strukturierendes Element der Handlung. Und letztlich bewahrheitet sich durch den Triumph des Geschwisterpaares natürlich auch noch die Tagline des Films: „Revenge is sweeter than candy.“
Medien
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Hänsel und Gretel. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, hrsg. von Heinz Rölleke. Band 1. Stuttgart: 2001, S. 100-108. Buch.
Hansel and Gretel: Witch Hunter. Tommy Wirkola. Paramount Pictures: 2013. Film.
Hansel and Gretel: Witch Hunters Official Trailer #1 (2012). http://www.youtube.com/watch?v=9246msCh7x4. Letzter Zugriff am 11.11.2013. Internetvideo.