Life is Strange
Das Ende Januar 2015 erschienene und von Dontnod entwickelte Life is Strange ist ein episodisches Erzählspiel welches auf den ersten Blick an die Titel des erfolgreichen Studios Telltale Games (unter anderem The Walking Dead und Game of Thrones) erinnert.
Der Titel ist ein in fünf Episoden aufgeteiltes Erzählspiel. In diesem schlüpfen Spieler und Spielerinnen in die Rolle der 18-jährigen Maxine Caulfield, die nach fünf Jahren zurück in ihre kleine Heimatstadt Arcadia Bay kommt, um dort an der renommierten Blackwood Academy Photographie zu studieren. In der ersten Episode des Spiels, “Chrysalis“, dreht es sich ganz um Maxs Rollenfindung in der neuen Umgebung. Arcadia Bay ist mit vielen alten Erinnerungen verbunden, unter anderem mit denen an ihre damals beste Freundin Chloe, zu der sie aber seit ihrem Umzug nach Seattle vor fünf Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hat. Die Spielentscheidungen, die Max im Verlauf der Episode trifft, werden alle späteren Ereignisse beeinflussen. Der besondere Clou des Titels besteht dabei in einer Fähigkeit von Max, welche sie selbst erst im Verlauf der Episode entdeckt: Sie kann durch eine Anstrengung ihres Willens in der Zeit zurückreisen.
Aus den hier angerissenen Elementen von Adoleszenzerzählung und Zeitreisephantastik bildet Life is Strange eine spannende Mixtur. Im Folgenden soll untersucht werden, wie es dem Titel gelingt, diese beiden sehr unterschiedlichen Konzepte Hand in Hand gehen zu lassen.
Eine typische Internatsgeschichte?
Max Caulfield hat wahrscheinlich nicht zufällig eine namentliche Verwandtschaft zu Holden Caulfield, dem Protagonisten aus J. D. Salingers The Catcher in the Rye. Mit der Referenz zu einem der berühmtesten Adoleszenzromane der Literaturgeschichte verweist Life is Strange an zentraler Stelle auf einen seiner wichtigsten Intertexte. Wie Holden lebt auch Max auf einem Internat und wie Holden ist auch Max eine wenig integrierte Außenseiterin, eine gesellschaftliche Randfigur im Mikrokosmos der Beziehungsgeflechte. Sie ist sich dieses Zustands sehr deutlich bewusst und thematisiert ihn immer wieder in Gedankenrede und in den Tagebucheinträgen ihres Scrapbooks. In einer zeitlich vor Beginn der Spielzeit liegenden Notiz schreibt Max über die typischen Herausforderungen eines Teenagers, der neu auf eine Highschool kommt: „It’s a bitch trying to get settled into a new school and social scene after I finally found good friends in Seattle. But I’m here now and this is the start of my new life.” Die Heldin des Spiels befindet sich in einer typischen Situation, wie sie bereits viele Internats- und Adoleszenzgeschichten immer wieder erzählt haben. Sie ist die nicht gerade extrovertierte Neue an der Schule und hat Probleme, sich einzufinden. Der Titel wiederholt diesen bekannten Topos durch ein Repertoire typischer Figuren: Es gibt die reichen und beliebten Mädchen, die arroganten Footballer, die nerdigen Technik- und Comicgeeks, die gehänselte religiös erzogene Freundin und den netten, aber merkwürdigen Freund, der gleichzeitig ein Auge auf Max geworfen hat. So weit, so bekannt.
Was das Setting von Life is Strange von anderen Highschool-Erzählungen abhebt, ist einmal die nach und nach durchscheinende Vielschichtigkeit der Figuren, als auch die Erzählweise der Internatsgeschichte an sich. Die Geschichte profitiert ungemein davon, im Medium des interaktiven Computerspiels noch verhältnismäßig selten erzählt worden zu sein. Dies führt zu einem innovativen Umgang mit dem Genre, wie sich im folgenden Video einer frühen Spielsequenz zeigen lässt:
Es ist den Spielenden überlassen, wie viele Elemente der Erzählung sie in das Spiel hineinlassen wollen. In der gezeigten Sequenz überlagert ein (thematisch natürlich wie die Faust aufs Auge passender) Soundtrack das Stimmengewirr auf dem Gang der Schule. Nähert sich Max einem Interaktionsobjekt, wie anderen Figuren oder Postern, kann der Spieler auf Knopfdruck ihre jeweiligen Gedanken darüber erfahren. Dies ist aber komplett optional, genauso gut könnte man die Passage auch ohne Interaktion und nur mit Musik auf den Ohren durchqueren.
Max‘ Gedanken kreisen sehr stark um ihren eigenen Status in der neuen Umgebung. Sie ist sich unsicher, ob sie den hohen Anforderungen ihrer Kurse gewachsen sein wird und ob sie neue Freunde finden wird. Max ist dabei eine sehr unsichere Figur, in ihren Notizen und Gedanken macht sie immer wieder deutlich, welch geringes Selbstwertgefühl sie hat.
Da Max in großen Teilen der ersten Episode in eigenen Gedanken versunken ist und Gespräche mit anderen Figuren nicht ihre Selbstzweifel thematisieren, entwickelt sich stellenweise ein sehr inszeniert wirkender Eindruck. Wenn sie es etwa traurig findet, dass sie nichts auf ihr eigenes Nachrichtenbrett in ihrem Wohnheim geschrieben hat, erkennt man deutlich, dass das Spiel einem auf allen Kanälen mitteilen will, wie es um Max‘ Innenleben wirklich bestellt ist. Dass man in der gleichen Szene allerdings das Nachrichtenbrett einer Freundin verschönern kann, passt nicht wirklich zur Inszenierung des schüchternen Mädchens, das sich kaum traut, mit anderen Menschen zu sprechen. In diesem und ein paar anderen Beispielen kollidieren die Handlungsmöglichkeiten des Spiels mit der Inszenierung des Charakters von Max.
Dennoch passen in Life is Strange außergewöhnlich viele Teile zusammen: Die Adoleszenzerzählung wird durch die Handlung, die überzeugende Gestaltung der Figuren, die detailverliebten Orte mit ihren unzähligen Postern, Flyern, Graffitis und Fotos und dem wirklich grandiosen Soundtrack auf allen Ebenen erzählt.
Spielmechanik
Max entdeckt zu Beginn des Spiels, dass sie die Fähigkeit hat, die Zeit zurückzudrehen. Das Element der Zeitreise wird nach typischen Regeln phantastischer Elemente in Erzählungen eingeführt: Max kann nicht nachvollziehen, woher ihre Begabung kommt, das erste Mal wendet sie sie in einem besonderen Stressmoment eher zufällig an. Nach einer kurzen Phase der ungläubigen Erprobung der Fähigkeit akzeptiert sie schließlich, dass sie die Zeit zurückdrehen kann und beginnt, ihre neue Kraft zu nutzen. Das phantastische Moment bricht daher in die ansonsten realistische Welt ein. Die Protagonistin wundert sich über das Übernatürliche, akzeptiert es dann aber schnell, um es zu nutzen. Wie andere Figuren auf Max’ Fähigkeiten reagieren, werden sicherlich spätere Episoden zeigen.
Natürlich nutzt Life is Strange dieses Spielelement für den Aufbau einer mysteriösen und phantastischen Handlung. Max hat wiederkehrende und rätselhafte Alpträume von einem monströsen Tornado, der in der nahen Zukunft auf das Städtchen Arcadia Bay zusteuern wird. Ihre Fähigkeit erlaubt es ihr außerdem gleich zu Beginn, das Schicksal mehrerer anderer Spielfiguren auf entscheidende Weise zu beeinflussen. Was aus all diesen Handlungsteilen wird, ist zum Ende der ersten von insgesamt fünf Spielepisoden noch nicht klar, doch es lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen, dass es um mehr gehen wird als nur die Frage, wer eigentlich wen mag und ob es Max gelingen wird, das Siegerphoto im schulinternen Wettbewerb zu schießen.
Doch genau diese simplen Erzählstränge sind es, die durch die Spielmechanik der Zeitreise ebenfalls entscheidend beeinflusst werden. Max ist, wie bereits beschrieben, eine unsichere und schüchterne Teenagerin in einer neuen Umgebung, die einen Weg finden möchte, sozial akzeptiert zu werden. Max ist gleichzeitig nicht auf den Kopf gefallen und hat einen sehr genauen Blick für ihre Umgebung, nicht umsonst hat sie ein Stipendium für eine der besten Photographie-Schulen des Landes bekommen. Was läge also näher, als Max ihre neuen Fähigkeiten auch für vermeintliche Kleinigkeiten nutzen zu lassen?
Als steuernde Person bekommt man in Life is Strange zahlreiche Möglichkeiten, kleinste Situationen in Max‘ Alltag erneut zu spielen: Erfährt sie im Gespräch die Antwort auf eine Frage, die sie erst nicht beantworten kann, geht man in der Zeit ein Stück zurück und kann nun die richtige Antwort direkt geben. Sieht Max, dass eine Schulfreundin von einem Football getroffen wird, kann sie ein paar Sekunden zurückgehen, um diese noch vor dem Aufprall zu warnen. Viele dieser Handlungen sind optional, es steht einem frei, die Zeit einmal oder mehrfach zurückzudrehen. Max‘ Taten verändern ihre Beziehungen zu den Personen um sie herum, oft halten sich Reaktionen dabei die Waage. Hilft sie etwa einer Cheerleaderin aus der Klemme, indem sie per ausgedruckter Email einen Streich auffliegen lässt, wird sie in der Gunst der Streichespielerin sinken, sollte diese herausfinden, wer die Sache hat auffliegen lassen. Viele Aktionen, die etwas in Max‘ Zukunft beeinflussen werden, haben in der Gegenwart keine unmittelbaren Konsequenzen. So ‚warnt‘ einen das Spiel etwa, dass das bloße Gießen einer Pflanze oder das Öffnen (oder Schließen) eines Fensters, an dem dann ein Vogel abprallen (oder nicht abprallen) kann, Konsequenzen haben wird. Verwiesen wird mit dieser Technik ganz klar auf den sogenannten Schmetterlingseffekt, der besagt, dass schon eine geringe Abänderung einer Bedingung ein komplexes System empfindlich verändern kann. Life is Strange nutzt damit quasi große Theorien, um ‚kleine‘ Themen zu besprechen. Die Referenz wird im Spiel durch Max’ Begegnung mit einem Schmetterling auf der Damentoilette der Schule deutlich markiert.
Schlussfolgerungen
Life is Strange ist ein auf allen Ebenen durchdachtes Adoleszenzspiel. Die Kunstfertigkeit des Titels liegt darin, jede seiner Ebenen stark auf das Thema der Jugendlichkeit und all der damit verbundenen Probleme zu lenken. Die Zeitreisemechanik, die auch Anlass für eine große epische Geschichte sein könnte, wird von der Protagonistin auf ganz natürliche Weise dafür genutzt, ihr eigenes Leben zu verbessern. Die fiesen reichen Gören versperren einem den Weg ins Wohnhaus? Max reist so oft in der Zeit zurück, bis sie die Umgebung so präpariert hat, dass die Gruppe mit frischer Wandfarbe vollgespritzt wird. Max merkt in einem Gespräch, dass sie gerade ihr Stipendium für ihre Schule in Gefahr bringt? Sie beginnt die Unterhaltung erneut und wählt ihre Worte mit mehr Bedacht, selbst wenn das vielleicht bedeutet, jemand anderem Ärger einzubringen.
Max Caulfield ist ein Prototyp einer adoleszenten Teenagerin. Ihre Probleme, Ängste, Sorgen aber auch ihre Cleverness und ihr Humor wirken wie eine Verschmelzung aus den Charakteren unzähliger medial auserzählter Jugendfiguren. Sie ist Salingers Holden Caulfield, sie ist Greens Miles Halter und Alaska Young in einer Person. Dem Spiel gelingt es dabei, durch seine beinahe lückenlose Inszenierung und durch seine durchdachte Konstruktion, die Protagonistin nicht wie eine leblose Projektionsfolie wirken zu lassen, sondern wie eine eben ‚typische‘ Teenagerin. In ihr finden sich viele Ankerpunkte für Spieler und Spielerinnen, die ihre Jugend gerade durchlaufen oder bereits durchlaufen haben.
Der besondere Aufhänger des Titels ist dabei nach meiner Meinung nicht die Zeitreisemechanik an sich, sondern die besondere Möglichkeit, die diese in Verbindung mit der jugendlichen Figur und der Internatsgeschichte eröffnet. Das Spiel stellt jedem Spieler und jeder Spielerin die Frage, wie sie die Möglichkeit des Zurückreisens für sich ganz persönlich einsetzen würde. Das Gedankenspiel, die Zeit ein Stück zurückdrehen zu können, wird in Life is Strange spielbare Realität und unangenehme Situationen können wieder und wieder neu gestartet und verändert werden. Für die Erzählung von Adoleszenz bietet das Spiel so eine ganz neue Handlungsmöglichkeit, mit all diesen potentiell traumatisierenden, beschämenden, unangenehmen, großartigen und ekstatischen Momenten des Aufwachsens umgehen zu können. Das Potential, welches in den kommenden vier Episoden hoffentlich noch weiter ergründet wird, ist gewaltig. Es bietet Spielern die Möglichkeit, die Chancen und Herausforderungen der Adoleszenz aus einer ganzen neuen Perspektive zu sehen. Wie oft dabei neu gestartet wird, liegt ganz in der Hand der spielenden Person. Um es mit den Worten von Amanda Palmer (und damit auch dem Soundtrack von Life is Strange) zu sagen: „Fuck yes/ I am exactly the person that I want to be“ (Palmer 2011)
Medien
Green, John: Looking for Alaska. Penguin Books, 2005. Buch.
Life is Strange. Square Enix. 2015. Computerspiel.
Palmer, Amanda: In My Mind. Amande Palmer Goes Down Under. Liberator Music, 2011. CD.
Salinger, J.D.: The Catcher in the Rye. Little, Brown and Company, 1951. Buch.
Schmetterlingseffekt. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlingseffekt. [Datum des Zugriffs: 08.02.2015]. Website.