THUG Life – die Leser:innen von Angie Thomas‘ Roman The Hate U Give erfahren nicht nur, was hinter diesen vier Buchstaben steht, die aus der englischsprachigen Rapszene bekannt sind, sondern sie erfahren auch, was für einen Schmerz Schwarze Menschen in den USA ertragen müssen. Protagonistin dieser Erzählung ist die 16jährige Starr, deren Jugend durch die Krisen, die der Tod eines geliebten Menschen auslöst, geprägt ist. So wird der Anfang und das Ende ihrer Jugend von den Ermordungen ihrer zwei ältesten Freund:innen Natasha und Kahlil markiert. Als sie elf Jahre alt ist, wird ihre Freundin Natasha bei einer Schießerei von Banden auf offener Straße erschossen. Fünf Jahre später wird auch Kahlil das Leben auf offener Straße genommen – dieses Mal durch die Kugel eines weißen Polizisten, der einen Kamm in der Autotür mit einer Waffe verwechselt. Vor Starrs Augen verblutet ihr alter Freund, mit dem sie gerade noch auf einer Party geflirtet hatte.
Gesellschaftliche Immobilität mündet in Hass
Dieser sinnlose Tod ihres Freundes löst nicht nur bei Starr ein Gefühl der Revolte aus, sondern bringt die ganze Nachbarschaft ins Revoltieren. Es ist eine Nachbarschaft, die von struktureller Benachteiligung geprägt ist und anstelle von gesellschaftlicher Infrastruktur und staatlicher Führung unter der Führung eines Drogenboss‘ steht. Wer in dieses Viertel geboren wird, hat kaum eine Chance, es zu verlassen. Ausgeschlossen und unterdrückt in ihrer Lage kommt die Wut über die soziale und räumliche Unbeweglichkeit in Form von unkontrolliertem Hass und Gewalt aus den Menschen heraus. Das Viertel verwandelt sich in ein Schlachtfeld und die Welt scheint Kopf zu stehen.
Chaos im Innen und Außen
So wie das Außen völlig durcheinandergerät, ist auch Starrs Inneres ein einziges Chaos. Die Ordnung, die sie sich aufgebaut hat, scheint nicht mehr zu funktionieren. Ihre Eltern haben es durch harte Arbeit und viele Überstunden geschafft, ihre Kinder auf eine private Schule zu schicken in ein Viertel, in dem hauptsächlich wohlhabende weiße Kinder zur Schule gehen. Lange hat Starr sich in dieser weißen, reichen Umgebung angepasst und versucht alles an sich, das sie als ‚anders‘ markiert, loszuwerden. Doch im Angesicht dieser schrecklichen Gewalt, die ihr Freund Khalil und sie erfahren haben, wird ihr klar, dass sie anfangen will, sich gegen diese zu wehren. Sie fängt an, zu hinterfragen, warum sie ihre Herkunft und ihre Zugehörigkeit verstecken will. Als sie dann Hauptzeugin in dem Prozess gegen den Polizisten werden soll, durchläuft sie einen Prozess des Heranwachsens zu einer eigenständigen Persönlichkeit, die lernt, sich anzunehmen und für ihre Rechte zu kämpfen.
Zusammenhalt in einer ungerechten Welt
Neben der Erzählung einer Welt, die Schwarze Menschen systematisch ausschließt, diskriminiert und gefährdet, ist es auch die Erzählung einer Welt, in der Schwarz-Sein unglaublich gefeiert wird. Starrs liebende Eltern kämpfen für ihre Kinder und zeigen ihnen immer wieder, dass sie richtig sind, so wie sie sind. Detailverliebt erzählt Thomas den Familienalltag und feiert dabei die Black Culture, die sich in den letzten Jahrzehnten in den USA entwickelt hat. Gegenseitig gibt sich die Familie, aber auch die Nachbarschaft, Halt, um im System der White Supremacy zu überleben. Dadurch wird eine Kollektivität gezeichnet, die wie eine utopische Zeichnung von Gesellschaft in Zeiten der Vereinzelung im Neoliberalismus wirkt.
Literarisch gewaltvolle Sprache
Thomas erzählt von Gewalt und lässt Gewalt sprechen, ohne dabei Menschen zu diskriminieren oder zu verletzen, die aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit eh schon gesellschaftlichen Ausschluss und Verletzung erfahren. Die Sprache des weißen Polizisten ist hasserfüllt, der Text lässt es aber nicht zu, dass er das N-Wort in den Mund nimmt. Das Buch ist ein gutes Beispiel dafür, dass man Gewalt und Hass darstellen kann, ohne sie zu reproduzieren. Es ist eine Sprache, die nicht geschönt, konstruiert oder elitär ist. Thomas schafft es dabei, den einzelnen Figuren jeweils einen eignen Sprachstil zu geben, der die kleinen feinen Unterschiede, die durch den jeweilig verschiedenen Habitus entstehen, hören lässt. Dadurch entsteht das Gefühl, dass man ganz nah an den Figuren dran ist. Das Lesen wird zu einem wahren Eintauchen in die Welt von Starr, aus der man am Ende nur ungern wieder auftaucht.
Literatur
Thomas, Angie: The Hate U Give. Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner. München: cbt 2018 [Amerikanische Erstausgabe 2017].