Meist rezensieren wir Spiele erst, wenn wir sie sehr ausführlich getestet und nach Möglichkeit durchgespielt haben. Bei unserem heutigen Titel ist dies allerdings nicht möglich, denn die benötigten 400 Tage wollten wir euch dann doch nicht warten lassen. The Longing ist 2020 auf der PC-Spieleplattform Steam erschienen. Publisher sind Applications Systems Heidelberg, entwickelt wurde es von Studio Seufz. Der Titel konnte den Deutschen Computerspielpreis in der Kategorie “Bestes Debüt” gewinnen. Die Auszeichnung ist sehr gut nachvollziehbar, denn einen vergleichbaren Titel hat es in der deutschen Computerspielszene lange nicht mehr gegeben. The Longing macht Langsamkeit zu seiner zentralen Spielmechanik und fordert damit etablierte Vorstellungen von Komfortfunktionen in Videospielen im Jahr 2020 heraus.
Wenn der König schläft, haben die Untertanen wenig zu tun
Protagonist von The Longing ist ein Schatten, eine kleine schwarze Gestalt, die als Diener eines mächtigen Königs in einem Höhlenlabyrinth lebt. Zu Beginn des Spiels fällt der König in einen 400 Tage andauernden Schlaf, der Schatten erhält den Auftrag, seinen Herrscher nach Ablauf dieser Zeit wieder zu wecken. In der Zwischenzeit darf er sich zwar im Reich umsehen, es aber auf keinen Fall verlassen. Da die Figur keine überlebenswichtigen Bedürfnisse im Stil eines Survival-Spiels hat, ist damit in erster Linie eine lange Wartezeit vorgegeben. Clou des Titels ist die Spielzeit: Die 400 Tage verlaufen in Echtzeit, ein Countdown am oberen Bildschirmrand zeigt das Verstreichen der Zeit, was auch passiert, wenn das Spiel nicht gespielt wird.

Die Heimat des Schattens liegt in einer sehr spärlich eingerichteten Höhle, in der ein Sessel, ein beinahe leeres Bücherregal und wenige andere Elemente stehen. Das Tagebuch der Figur liefert eine Innensicht und gibt Hinweise, wie die Wartezeit erträglicher gemacht werden könnte. So ließen sich Bücher und Malutensilien finden, mit denen man Gemälde anfertigen könnte. Feuersteine, Wasser und ein Bett würden für Komfort sorgen und das Ausharren so angenehmer gestalten. Die Utensilien dafür vermutet der Schatten im Höhlenreich seines Königs, welches er selbst noch nie erkundet hat. In den kommenden 400 Tagen hat man allerdings mehr als genug Zeit, die verzweigten Gänge und Hallen kennenzulernen. Und Zeit, soviel sei an dieser Stelle bereits gesagt, benötigt man beim Spielen von The Longing in rauen Mengen.
Point and Click and Wait
Der Schatten ist, um es diplomatisch auszudrücken, nicht die schnellste Figur, die sich jemals durch eine Spielwelt bewegt hat. Gesteuert wird im Stil eines Point-and-Click Adventures, die Figur bewegt sich zu ausgewählten Stellen und interagiert mit der Spielwelt. Bei all diesen Tätigkeiten lässt sich der Schatten ausgesprochen lange Zeit. In kleinen Tippelschritten schlurft er über die langen Gänge und erklimmt quälend langsam in die Höhe steigende Treppen. Er hat ja eine lange Wartezeit, wozu sollte er sich also beeilen?

Nicht nur der Protagonist agiert sehr langsam, auch die Spielwelt scheint wie festgefroren in der Zeit. Steinerne Türen öffnen sich so zäh, dass man kaum eine Bewegung wahrnimmt und in Höhlen mit Wasser kann man wortwörtlich dem Moos beim Wachsen zusehen, wenn man sich dafür ein paar Tage Zeit nehmen möchte. Die kunstvoll gezeichneten Räume erzeugen in Kombination mit der Langsamkeit der Spielmechanik das Gefühl einer verwunschenen Welt, die in einen märchenhaften Schlaf gefallen ist. Man selbst bewegt sich in dieser Umgebung wie ein Nachtwächter im Museum, ohne Hast und mit großem Bedacht. Immer wieder gibt einem die Welt Hinweise, dass in ihr viele Geheimnisse versteckt liegen, die sich nur geduldigen Spieler*innen offenbaren werden.

Die verstreichende Zeit beeinflusst auch ohne das Zutun des Protagonisten die Umwelt der Spielwelt. Felsen fallen herab und weiches Moos und Pilze wachsen in feuchten Höhlen. Pfade, die beim ersten Erkunden noch verschlossen sind, öffnen sich so Tage und Wochen später und geben Stück für Stück das komplette Reich des Königs preis. The Longing zwingt auf diese Weise dazu, das Spiel bedächtig zu reflektieren, Eile und beiläufiges Ablaufen sind schlicht nicht möglich. Den schnellen Spielfortschritt tauscht man gegen eine erhöhte Bedeutung jedes einzelnen Ereignisses ein. Benötigt eine Steintür volle zwei Stunden, um sich zu öffnen, ist das Erlebnis ihres Durchschreitens umso wichtiger. Was in anderen Videospielen derart trivial ist, dass kein Gedanke daran verschwendet wird, ist hier eine zentrale Spielerfahrung.
Die Kunst des Wartens
The Longing zwingt dazu, Langsamkeit auszuhalten und zu erfahren. Bezüglich seines Spieltempos ist es ein radikaler Gegenentwurf zu zeitgenössischen Videospielen mit permanent rennenden Figuren, Schnellreisesystemen und interaktiven Karten zur Orientierung. Zeit, so die Aussage des Spiels, ist subjektiv. Ihr Verlauf verändert sich je nach Spielsituation, meist in normaler Geschwindigkeit, manchmal aber auch schneller, zum Beispiel, wenn der Schatten sich seine Wohnhöhle bequem eingerichtet hat, sich ein Feuer entzündet und ein gutes Buch liest. Spieler*innen haben so die Chance, die Wartezeit zu verkürzen und das Erwachen des Königs zu beschleunigen. Gleichzeitig existieren in der Spielwelt aber auch mystische Orte, in denen die Zeit komplett stillsteht.

Eher in der Tradition des Point-and-Click-Genres steht die Erkundung des Höhlensystems selbst. Da der Schatten nur ein Diener ist, der wenig über seine Welt weiß, hat er sich in Anwesenheit seines Königs noch nie tiefer in dessen Reich getraut. Nun aber locken die Verheißungen unentdeckter Säle und Mysterien, bei denen unklar ist, ob der Protagonist seine Befugnisse nicht längst überschreitet. Je tiefer man in die Höhle vordringt, umso unsicherer ist die Spielfigur, ob der König ihre Abenteuer gutheißen würde. So konfrontiert einen die Erzählung immer wieder mit narrativen Entscheidungen und ermöglicht ein Rollenspiel. Möchte man ein treuer Diener sein, keine Regeln brechen und dafür in Kauf nehmen, dass sich die Wartezeit quälend lang anfühlen wird? Oder gibt man seinem Entdeckungsdrang nach und erkundet Bereiche, die vielleicht nicht erkundet werden sollten? Hinterfragt man, wofür der schlafende König seinen riesigen Schatzhort benötigt? Oder wieso die Tür zur Bibliothek verschlossen ist? Und muss nicht jede Höhle auch einen Ausgang haben?
The Longing ist sicherlich kein Titel, der allen Spieler*innen bedenkenlos empfohlen werden kann. Auf manche Menschen dürfte das Spieltempo mehr wie eine erzieherische Strafe als eine innovative Designentscheidung wirken. Dennoch überwiegt bei meinem längst noch nicht abgeschlossenem Playthrough die Faszination für ein Spiel, welches bewusst anders sein will und mit seiner Mechanik einen Debattenbeitrag zu zeitgenössischem Game-Design liefert. Wer an Videospielen als Medium interessiert ist, der kommt um diesen Titel kaum herum. Wie gut man das Warten dann selbst verträgt, ist noch einmal eine andere Frage.
Medien
The Longing. Studio Seufz. 2020. Computerspiel.
Fotos: Alle Fotos sind selbst angefertigte Screenshots aus dem Spiel The Longing.