Victor Jestin: Hitze

Der erste Satz von Victor Jestins Roman Hitze verdeutlicht schonungslos den Tenor der folgenden Geschichte: „Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren.“ (S. 7) Erzählt wird dies eindringlich aus der Perspektive des 17-jährigen Léonard, der mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern die Sommerferien auf einem Campingplatz an der französischen Atlantikküste verbringt. Bezeichnenderweise beginnt der Roman am letzten Tag des Urlaubs, „der letzte Freitag im August“ (S. 7), und betont damit in der doppelt markierten zeitlichen Dimension zweier letzter Tage, dass es um Grenzmomente und Übergänge geht. Die erste Seite des Textes legt so nicht nur die symbolische Zuspitzung der Situation in Oscars dramatischen Tod dar, sondern stellt Léonards diffuses Erleben des Heranwachsens aus. Dieses kreist um erste sexuelle Erfahrungen – „Deswegen waren wir doch alle hier.“ (S. 7) –, nächtliche Partys am Strand und das angespannte Miteinander im sozialen Umfeld. Denn Léonard ist kein Teil der feiernden Jugendlichen, „ich war nicht dabei“ (S. 7), und es bleibt offen, warum er nicht mit den anderen feiert. Stattdessen wandert er in seiner Schlaflosigkeit über den Platz, bis er Oscar auf einer Schaukel (!) findet. Der Spielplatz als Kindheitsraum wird damit zum Umschlagsort eines gescheiterten Übergangs ins Erwachsensein.

Nicht-Ort Campingplatz

Ausgehend von der einschneidenden Schilderung, wie Léonard Oscar entdeckt, zoomt die Erzählstimme auf der Ebene der erzählten Zeit zurück und beginnt mit Ereignissen in den nächtlichen Stunden davor. Deutlich wird in diesen Beschreibungen, dass Léonard sich auf dem Campingplatz unwohl fühlt und sich sein angestrengtes Innenleben in seine Wahrnehmung des Außenraumes verlagert. Er kann in seinem Zelt „einfach nicht still liegen“, „Steine drückten durch meine Luftmatratze“ und an seiner „Haut klebte Sand.“ (S. 8) Léonard ist Sinnbild eines angespannten Jugendlichen, der sich mit all den Herausforderungen des Heranwachsens konfrontiert sieht und sich daran aufreibt. Er hadert mit sich, seinem Umgang mit den eigentlich verständnisvollen Eltern und seinem Dasein auf dem Campingplatz. Ziellos streift er auf immer gleichen (Um-)Wegen umher und kommt dennoch nirgends an. Die Uniformität des Campingplatzes bietet Léonard keine Andockfläche in zwei Richtungen. Er ist kein Kind mehr, das den Urlaub mit den Eltern verbringen möchte, aber er kann auch nicht bei den anderen Jugendlichen ankommen: „Ich war auf alle Partys gegangen, hatte mich bemüht. Und jedes Mal war ich schon nach kurzer Zeit wieder abgehauen“ (S. 9). Léonard steckt so in mehrfacher Hinsicht wortwörtlich und im übertragenen Sinne fest.

Marker des Erwachsenwerdens

Nicht zufällig begegnet Léonard auf seiner nächtlichen Runde durch den Campingplatz zuerst „der Kondomautomat“, der auch nachts „leuchtete“ und seine Werbebotschaft „Schützt euch“ (S. 8) unaufhörlich ausstrahlt. Der Kondomautomat, der als wenig subtiler Zeichenträger mit sexuellen Aktivitäten aufgeladen ist, ist für Léonard in der von ihm hereingelesenen Implikation des „Tut es“ (S. 8, kursiv im Original) auch eine Überforderung im Heranwachsen: „Dieser Campingplatz hatte mir schon schwer zu schaffen gemacht.“ (S. 8) Das doppelbödige Dazwischen von Jugend und Erwachsensein offenbart sich dabei weiter im Verhalten der anderen Jugendlichen, die „stolz und verschämt zugleich“ (S. 8) abendlich am Kondomautomat einkaufen. Der erste Sex ist hier als Meilenstein des Erwachsenwerdens markiert, der für Léonard aber ebenso mit Ängsten versehen ist.

Erdrückender Sommer

Symbolische Verdichtung findet Léonards angespanntes Erleben weiter im sommerlichen Setting, denn die titelgebende Hitze legt sich über alles. Jede Bewegung, jede Wahrnehmung ist dadurch beschwert und durchdrungen. Fast schon apathisch stolpert Léonard im weiteren Verlauf des Romans, der allein den letzten Tag und die letzte Nacht auf dem Campingplatz schildert, von Begegnung zu Begegnung. Zentraler Reibungsfaktor ist dabei Léonards Umgang mit dem Fund des sterbenden Oscars: Statt Hilfe zu holen, hat Léonard den anderen Jungen am Strand vergraben. Die große Schuld trägt er allein mit sich herum und diese verschärft seine Krise weiter. Dass Léonard diese mit der Abreise vom Campingplatz auch nicht einfach hinter sich lassen kann, unterstreicht das offene Ende.

Victor Jestin ist mit Hitze ein beeindruckendes Debüt gelungen. Mit viel Feingefühl für jugendliche Erfahrungswelten lotet er das Innenleben seines Protagonisten aus, zeichnet diesen in all seinen ambivalenten Facetten und Abgründen. Das Erwachsenwerden ist hier ein beklemmender Prozess, dem man sich nicht entziehen kann.

Literatur

Jestin, Victor: Hitze. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Zürich: Kein & Aber 2020.

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