Spiele (in der Gesamtheit von Video-, Brett- und Pen and Paper-Spielen) haben oft einen kompetitiven Charakter. Sei es die Gruppe gegen das Spiel, die Spielenden gegeneinander oder einzelne Spieler*innen gegen in den Weg gestellte Hürden. Oft haben sie den Zielpunkt des Gewinnens. Im Genre des Pen and Papers schlüpfen Spieler*innen dafür in die Haut fiktiver Figuren in einem erzählten Setting, oft übernimmt dabei eine Person die Spielleitung und erzählt die Welt samt all ihrer Herausforderungen, die restliche Spielgruppe bewegt sich mit ihren Figuren inmitten dieser Spielwelt. Das Mittel des Pen and Paper ist die gemeinsame Erzählung aller Beteiligten, meist unterstützt von Regelbüchern, Charakterbögen und Würfeln.
Wanderhome ist ein Pen and Paper Rollenspiel einer neuen Generation, welches grundlegende Konventionen in Frage stellt. Das von Jay Dragon geschriebene und von Letty Wilson und Sylvia Bi wunderschön illustrierte Buch nimmt die Geschichte als solche in den Blick und gibt Spielenden genau die richtige Menge an Tools an die Hand, um diese in einem kollaborativen Prozess zu erzählen.
Der Weg ist das Ziel
Zuerst die Grundlagen: Wanderhome spielt in der phantastischen Welt von Haeth, welche ausschließlich von Tierwesen (im Original: Animal-folk) bevölkert ist. Das Land hat einen großen Krieg erlebt, dieser ist zum Zeitpunkt der Erzählung allerdings beendet und Frieden ist eingekehrt. Es wird ausdrücklich betont, dass die Welt von Haeth grundlegend friedlich, warm und freundlich ist, ein Ort, der zum Erkunden einlädt. Und genau diese Erkundung, die im Titel schon angedeutet wird, ist der Fokus des Rollenspiels: Als Spielergruppe geht es auf Reisen, es geht um das Entdecken von Orten, deren Bewohner*innen und deren Geheimnisse.
Es geht dabei nicht darum, einen bestimmten Ort zu erreichen, sondern darum, gemeinsam zu entscheiden, wo der Weg als nächstes hinführen soll. In traditionellen Rollenspielen würde die Gruppe an einem neuen Ort typischerweise auf Quests stoßen, auf Hindernisse und Gegner, die es zu überwinden gilt. In Wanderhome ist diese Art des Erzählens zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht der Regelfall. Die Gruppe der Spielenden wird dazu ermutigt, sich auf die Schönheit eines neuen Ortes zu konzentrieren und gemeinsam eine spannende Geschichte zu erzählen, die nicht auf offenen Konflikten basieren muss. Unterstützt werden sie dabei von den warmherzigen Illustrationen des Buchs und Tabellen mit Hinweisen zu möglichen Eigenschaften und Stimmungen von Orten.

Erzähl-Spiel
Ein Rollenspiel der neueren Generation ist Wanderhome auch im Hinblick auf sein reduziertes Regelwerk. Ist bei bekannten Genregrößen wie Dungeons and Dragons oder Shadowrun der “Paper”-Anteil in Form von seitenlangen Charakterbögen sehr groß, setzt Dragons Werk auf minimalistische Playbooks, mit deren Hilfe Spielende ihre Charaktere auf einer Spielkarte skizzieren können. Statt Attribute und Skills besitzen Figuren Vorlieben und Abneigungen und werden durch Fragen an andere Mitspielende zum Leben erweckt. Auf Würfel und numerische Werte verzichtet das System, alle Entscheidungen werden direkt durch die Erzählung gelöst. Als Hilfsmittel werden lediglich kleine Tokens eingesetzt, die für gutes Rollenspiel vergeben und dafür eingesetzt werden können, um Situationen in eine gewünschte Richtung zu steuern (ohne dabei gegen den Konsens der Gruppe zu handeln). Ohne Würfelproben gibt es auch keine Möglichkeit, gegen den eigenen Willen zu scheitern. Charaktere können Niederlagen erleben, doch sollen diese selbstgewählt als narratives Element eingebaut werden, als freie Entscheidung der Spielenden.

Wanderhome überlässt es zudem seinen Spielenden, ob diese einen Erzähler installieren wollen (im Original: Einen Guide) oder ob sie die Geschichte komplett gemeinsam gestalten möchten. Erzählerfiguren können innerhalb der Gruppe wechseln, etwa von Spielabend zu Spielabend. So kann sichergestellt werden, dass alle Mitspielenden sich wohlfühlen und ihre eigenen Anliegen unterbringen können. Um sicherzustellen, dass niemand von Themen überrascht wird, die nicht auf den Tisch kommen sollen, bietet das Regelwerk verschiedene Tools zur Meta-Kommunikation und Konfliktlösung an, mit Fokus auf klärende und strukturierende Fragen wie “Wollen wir das wirklich?” oder “Sollen wir nicht woanders hingehen?”.
Unterliegende Konflikte
Nur weil die Welt von Haeth grundlegend friedlich ist und ein gewaltfreies Rollenspiel ermöglichen soll, heißt dies nicht, dass Konflikte keine Rolle spielen. Wie eingangs erwähnt, gab es einen langen Krieg in der Welt, der im Bewusstsein aller Tierwesen verwurzelt ist und mehr oder weniger sichtbare Spuren hinterlassen hat. Diese Spuren zu suchen und zu erzählen, ist jederzeit eine Option und kann der Welt und den Figuren zusätzliche Tiefe verleihen. Das Setting des Rollenspiels scheint wie gemacht dafür, in einem möglichst geschützten Rahmen ernstere Themen anzusprechen, seien es Ängste oder Traumata. Durch den Prozess der Reise können Szenen schnell angespielt und schnell wieder verlassen werden. Die Flüchtigkeit des Erzählens ermöglicht es potentiell, sich an ein Thema heranzutasten, es anzuschneiden und dann wieder liegen zu lassen, um zu einem späteren Moment tief einzutauchen.
Die Reise wird so zu einem Prozess, der dabei helfen kann, ernste Themen einzubringen und eventuell sogar zu verarbeiten. Wichtig dabei ist stets, dass diese Möglichkeit in der Welt angelegt ist, aber eben stets die Wahl bleibt, diese komplett auszusparen.
Wanderhome ist ein außergewöhnliches und neuartiges Rollenspiel, welches seinen Spielenden alle Freiheiten lässt und als Kern und Attraktion die Narration als gemeinschaftliches Erlebnis setzt. In dieser Konstellation dürfen sich sowohl erfahrene Spieler*innen als auch Neulinge angesprochen fühlen. Die Einladung zur Reise spricht Jay Dragons Rollenspiel bewusst so inklusiv und nierdrigschwellig wie möglich aus.
Literatur
Dragon, Jay (2021): Wanderhome. Saugerties, NY: Possum Creek Games Inc.
Wanderhome auf Kickstarter: Klick!
Alle Fotos sind von Dennis Hoksch aufgenommen und stammen direkt aus Wanderhome.