Zahnräder unter der Oberfläche

Parkplatz, Haltestelle Dietlikon. Ein wunderschöner Junitag. Julia ist fest entschlossen sich endlich von ihrem Freund Sputim zu trennen und bleibt dies auch noch, als Sputim eine Waffe zieht. Dieser wird später mit einer Wasserflasche das Blut vom Asphalt wegspülen, Julias toten Körper in den Kofferraum packen und wegfahren, unwissend, dass Sirine ihn gesehen hat. Sirine erzählt ihren Schulfreunden Nico, Rena und Tom von dem Mord, kann jedoch nicht zur Polizei gehen. Sirine und ihre Familie haben nämlich keine Papiere und leben in ständiger Angst, ausgewiesen zu werden. So beschließt die Gruppe Jugendlicher, den Täter alleine ausfindig zu machen. Eine Plan der nicht einfach umzusetzen ist und wegen der damit verbundenen Gefahr auch fast im Sande verläuft. Doch Tom will nicht aufgeben. Nicht aus Gerechtigkeitssinn, sondern weil er keine Lehrstelle hat, sich wie ein Versager fühlt und in der Aufklärung des Mordes seine einzige Chance sieht, Rena für sich zu gewinnen. Tom nimmt daher Kontakt zu Sputim auf. Doch diesem wird langsam bewusst, dass sein Verbrechen einen Zeugen hatte und er ist darauf gefasst, sich wehren zu müssen.

Facetten des Unbehagens

Die Gattung Krimi rückt gewisse Assoziationen mit dem Titel des Romans in den Vordergrund. ‘Leise Angst’, dass ist das mulmige Gefühl eine dunkle Gasse entlanglaufen zu müssen, der Schauer der einen überkommt, wenn man sich beobachtet fühlt oder die Furcht vor etwas Unausweichlichen, dessen Nahen man nur erahnt. Was Leise Angst von Severin Schwendener besonders macht, ist, dass es diese Facetten des Unbehagens nimmt und, anstatt diese auf die Darstellung von Kriminalität zu beschränken, auf die Lebenswelt der jugendlichen Protagonisten erweitert. Denn obwohl die Aufklärung des Mordes an Julia das Grundgerüst der Handlung bildet, sind es die alltäglichen Ängste von Sputim, Nico, Rena, Sirine und Tom die im Zentrum der Erzählung stehen. ‘Leise Angst’, dass ist für Sirine und Tom das baldige Ende ihrer Schulzeit und damit die Notwendigkeit sich in die Gesellschaft eingliedern zu müssen. Für Sirine bedeutet das die Machtlosigkeit als ‘Illegale’ nach der Schule keine Ausbildung machen zu können und daher früh heiraten zu müssen. Statt wie ihre Freunde eine selbstständige Existenz beginnen zu können, wartet auf Sirine so ein Dasein als brave Ehefrau ganz im Sinne ihrer Eltern. Tom hingegen hat keine Lehrstelle bekommen. Mit dem miserablen Schulabschluss beginnt sein Alltag als Arbeitsloser und, wie seine Eltern befürchten, der soziale Abstieg. Sirines und Toms sind Lebenswege, die nahezu unabwendbar erscheinen, ‘leise Ängste’ die immer näher schleichen und positive Ideen von Zukunft zu überschatten drohen.

Diesen Jugendlichen gegenübergestellt wird nun Sputim, der sich bereits an diesem ‘Zeitort der Angst’ befindet, der in nicht all-zu-ferner Distanz auf die anderen Protagonisten wartet. Für Sputim hat die Schule schon lange aufgehört. Als Straßenarbeiter steht er im Hochsommer bei brennender Hitze auf der Autobahn und wird dabei stets von seinem schweizer Vorarbeiter schikaniert und beleidigt. Obwohl er der bessere Arbeiter ist, hat er als Jugoslawe keine Chance, einmal selbst eine höhere Position einzunehmen. Sputim wird durchaus von der Sorge gejagt, dass seine Tat entdeckt wird. Doch es ist vor allem die generelle Ausweglosigkeit seines Lebens in der Schweiz, die ihn verfolgt und sein Verhalten motiviert.

Momentaufnahmen

Die Haltlosigkeit der Protagonisten spiegelt sich in der Art und Weise, wie hier erzählt wird. Leise Angst arbeitet mit mehreren personalen Erzählern. Immer wieder wechselt der Roman zwischen den einzelnen ProtagonistInnen und inszeniert so gleichermaßen Nähe und Unabgeschlossenheit. Wir betreten das Schicksal der Figuren zum Zeitpunkt des Mordes und verlassen diese kurz nachdem die Angelegenheit einen Abschluss gefunden hat. So kommt zwar der Handlungsbogen um das Verbrechen zu einem Ende, die ‘leisen Ängste’ der ProtagonistInnen und deren Beziehungen zueinander bleiben jedoch unaufgelöst. Dabei rückt der Roman immer wieder in den Vordergrund, wie oft Erfolg und Erfüllung theoretisch möglich sind, blieben nicht meist zu viele Dinge unausgesprochen, um diese Ziele zu erreichen. Es sind Ängste und falsche Annahmen die dazu führen, dass der richtige Moment hier stets verpasst wird.

Der Roman stellt so einen Querschnitt von fünf Lebenswegen dar, die sich kreuzen, begleiten und eventuell wieder voneinander entfernen. Dabei vermeidet Schwendener glücklicherweise plakativ sinnstiftende Gespräche, sondern liefert stattdessen viele kleine Momentaufnahmen aus dem Alltag der Figuren. Besonders gelungen ist ein Abendessen bei Nicos Familie. Nico hat seinen Eltern von dem Mord erzählt und auch davon, dass sie nicht zur Polizei gehen können, weil Sirines Familie keine Aufenthaltsgenehmigung hat. Der Mord wird hier schnell zur Nebensache. Während er seinen Hackbraten isst, fängt der Vater mit noch vollem Mund an seine politische Meinung zu ‘Papierlosen’ herunterzupredigen. Die Szene selbst wird später keine Rolle mehr spielen. Wird der Vater Sirine später treffen und lernen, dass diese ein netter Mensch ist, dem er wünscht, dass er eine Zukunft in der Schweiz hat? Nein. Wird Nico durch dieses Gespräch negativ über Sirine denken? Nein. Dennoch wirft die Szene ein kurzes Licht auf die Gesellschaft in der sich Sirine bewegt. Eine unterschwellige Atmosphäre, die sie erahnt. Die Angst vor der Abschiebung, die wohl bevölkert ist von Menschen die noch beim sich vollstopfen darüber schimpfen, dass sie nicht für andere zahlen wollen.

Leise Angst ist ein Jugendroman, der auf übliche Handlungsmuster und Charakterisierungen verzichtet und dabei erfrischend vielschichtig arbeitet. Nichts ist hier einfach, eindeutig oder extrem. So ist es auch nicht leicht zu sagen, worum es in dem Roman geht: Die Aufklärung des Mordes an Julia? Die aufkeimende Liebesgeschichte zwischen Rena und Tom? Die Freundschaft von Tom und Nico? Die Ausländerpolitik in der Schweiz? Den Prozess des Erwachsenwerdens? All diese Aspekte sind gleichsam wichtig, greifen ineinander, begründen sich gegenseitig und treiben die Figuren an. ‘Leise Ängste’, das sind komplexe Netzwerke, die Zahnräder unter der Oberfläche.

Literatur

Schwendener, Severin: Leise Angst. Gulliver. Beltz & Gelberg. Weinheim Basel: 2014. Roman.

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