Zum Glück richtig schüchtern

Liv Marit Webergs Debütroman Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich erscheint 2015 erstmals in deutscher Übersetzung bei FISCHER Sauerländer und erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben von Anne Lise, einem extrem schüchternen und unsicheren Mädchen. Im Klappentext des Romans heißt es, die Autorin verarbeite in der Geschichte „auch ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen – und treibt sie auf die Spitze!“.  Ist eine Geschichte aus der Sicht einer Ich-Erzählerin noch spannend zu lesen, wenn diese geradezu übertrieben schüchtern ist, ungern die Wohnung verlässt und generell das Gespräch mit anderen Menschen meidet? In dieser Rezension soll gezeigt werden, warum dieses Experiment auf seine ganz eigene Art funktioniert.

Der Text liest sich problematisch

Die Geschichte macht schnell klar, dass Anne Lise wirklich äußerst schüchtern und unsicher im Umgang mit anderen Menschen ist. Zu Beginn der Erzählung zieht sie nach Oslo, um dort Entwicklungspolitik zu studieren. Ausgestattet mit einer spärlich eingerichteten Studentinnenwohnung und einem Studiendarlehen beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt, wie er schon so oft in typischen Adoleszenzgeschichten beschrieben wurde: „Ich ziehe nach Oslo, um mein bisheriges Leben hinter mir zu lassen. Ein Neuanfang, schlicht und einfach. […] Ich bin zu allem bereit.“ Das bekannte Motiv des hoffnungsvollen Neuanfangs wird jedoch schon durch den Titel des nächsten Kapitels gebrochen: „Nein, bin ich nicht“ (S. 10). Der Text macht schnell klar, dass Anne Lise eine Figur mit sozialen Problemen ist, der es extrem schwer fällt, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen und aufrecht zu erhalten. Ihre Versuche, sich in ihr neues Leben einzufinden, wirken nur auf den ersten Blick erfolgreich: Auf dem Campus stolpert sie wortwörtlich in Tore hinein, der ein Gespräch mit ihr beginnt. Da er die Initiative ergreift und Interesse zeigt, beginnt eine Beziehung zwischen den beiden, die Anne Lises extreme Schüchternheit zuerst nicht blockieren kann. Die Erzählung schreitet von der ersten Begegnung im Zeitraffer voran, zwei Seiten später sind die beiden ein Paar, 21 Seiten später bereits wieder getrennt, da Tore mit ihrer Art doch nicht umgehen kann. Dass die Beziehung überhaupt zustande kam und eine Weile halten konnte, liegt an Tores Bemühungen und nicht Anne Lise.

Was an dieser Stelle wie eine sehr ungenügende Zusammenfassung der Ereignisse wirkt, ist tatsächlich eine recht akkurate Wiedergabe des Erzählstils von Webergs Roman. Anne Lise ist eine autodiegetische Erzählerin und erzählt in schroffen, wortkargen und parataktischen Sätzen. Oft wirkt es, als habe sie nicht einmal Lust, ihre Geschichte zu erzählen. Exemplarisch soll hier das vollständige Kapitel nach der Trennung von Anne Lise und Tore wiedergegeben werden: „So Leute. Wir sind nicht für alle gleichermaßen geeignet.“ (S. 57). Das ist alles. Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich liest sich an vielen Stellen so anstrengend, wie seine Erzählerin als Figur sich selbst darstellt. Der für ein Jugendbuch ungewöhnliche Stil ist gleichzeitig mutig und richtig. Durch ihre Art der Erzählung wird Anne Lise zu einer glaubhaften Ich-Erzählerin. Sie ist krankhaft schüchtern, nicht nur gegenüber fremden Menschen, sondern auch gegenüber ihrer eigenen Familie. Wieso also sollte sie in einer Geschichte, die sie selbst erzählt, auf einmal den impliziten Lesern ihr Herz öffnen? Eine Erzählung über sich selbst kann immer auch als Dialog mit einem Leser gesehen werden, also als Kommunikationsakt. Und Kommunikation, so zeigt der Roman deutlich, ist die große Schwachstelle seiner Erzählerin. Figurenzeichnung und Erzählstil des Texts gehen Hand in Hand, auch wenn der beschrittene Weg im ersten Moment sehr ungewohnt zu lesen ist.

Still nach außen, laut im Inneren

Die Aufmachung von Zum Glück sieht mich niemand … dachte ich wirkt wie die einer typische Problemerzählung: Die Protagonistin hat ein Problem (ihre extreme Schüchternheit), welches in der Erzählung übertrieben dargestellt und von allen Seiten beleuchtet wird. Anne Lise wäre wahrscheinlich ein durch und durch schüchternes Mädchen, hätte kein Selbstwertgefühl und müsste im Laufe der Erzählung von anderen Figuren aus ihrem bedrohlichen Zustand errettet werden. Glücklicherweise ist der Roman aber keine Problemerzählung. Anne Lise kann laut werden, sie kann andere Menschen beschimpfen, verurteilen und verspotten. All das geschieht allerdings nur in ihrem Inneren, in einem steten inneren Monolog. Zu einer späteren Stelle des Romans ist Anne Lise gezwungen, für ihren Unterhalt in einer kaum besuchten Raststätte zu jobben. Als dort eine weitere Person angestellt werden soll, fühlt sich Anne (zu Recht) in ihrer Stellung bedroht. Ihre Reaktion sieht so aus: „Bist du hier, um mir meinen Job wegzunehmen, bitch, und damit meine wirtschaftliche Existenz und meine ganze Zukunft, bitch???!!“ (S. 117). Laut ausgesprochen wird von ihr keines dieser Gefühle. Die Protagonistin ist damit natürlich weiterhin eine Figur, die durch ihre äußere Schüchternheit gut sichtbare Probleme hat. Dennoch sind bei ihr gleichzeitig Emotionen wie Wut, Aggressivität, Neid, Spott und selbstbewusste Stärke vorhanden. Eine vergleichbare Figur aus einem Problemroman würde solche Eigenschaften eher nicht besitzen.

Anne Lise ist auf ihre eigene Weise selbstbewusst. Sie nimmt ihre Schwächen wahr, interpretiert diese aber anders als ihr Umfeld. Empfindet die Außenwelt Anne Lises Verhalten als unnormal, kehrt Anne Lise diese Situation an vielen Stellen um und problematisiert ihre Umwelt: „Sie kommt mir ein bisschen zu nahe, steht jetzt nur einen Meter von mir. Offensichtlich hat diese Inga Probleme mit Privatsphäre, eventuell auch mit sozialer Intelligenz.“ (S. 124). Die Erzählung liefert viele Stellen, in denen ‚problematisches‘ Verhalten durch eine neue Kontextualisierung in Frage gestellt wird. Ist wirklich die distanzierte und schüchterne Person der einzige Fall von sozialer Abweichung von der Norm, oder sind es vielleicht auch die ausgesprochen kontaktfreudigen und vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Szenemenschen, denen Anne Lise im Verlauf des Romans begegnet? Immer wieder stellt sie fest, wie falsch diese auf sie wirken, wie sehr ihr Lächeln eine hohle Geste der Wirklichkeit ist und wie schnell diese Fassade bröckeln kann, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen läuft. Devianz, also Abweichung vom Status quo, wird so zum allgegenwärtigen Moment der Erzählung. Fast alle auftretenden Figuren sehen Anne Lise als klare Außenseiterin, sprechen oft davon, sie wird als ‚so eine‘ und ‚die da‘ bezeichnet, unbestimmte, aber dennoch eindeutige Label abweichenden Verhaltens. Anne Lise wiederum sieht die meisten Menschen in ihrer Umgebung als unnormal an, sich selbst eingeschlossen. Über sich sagt sie, sie „befinde [sich] im Herbst des Lebens. Und so wird es immer sein.“ (S. 125). Der eindeutige Zustand des Anders-Seins der Protagonistin wird in der Erzählung immer wieder dadurch relativiert, dass auch die anderen handelnden Figuren auf die gleiche Ebene gestellt werden. Dies wiederum geschieht nicht durch einen wertenden, allwissenden Erzähler, sondern durch die subjektive Ich-Erzählerin. Die Geschichte wehrt sich so auf mehreren Ebenen gegen eine zu eindeutige Lesart.

Zum Glück keine Spur von Hilfe und Lösung

Problematische Verhaltensweisen werden im Text anhand der Figuren geschildert, aber eben nicht verhandelt. Die Erzählung präsentiert keine eindeutige und endgültige Lösung für oder Änderung von Anne Lises Verhalten. Devianz wird als hingenommener Fakt dargestellt, als ein Verhalten, mit dem alle Betroffenen leben müssen und auch leben können. Steuert Anne Lises Leben während des Romans noch in eine katastrophale Richtung, ohne Studium, ohne Geld und ohne Freund, hat sich ihre Situation am Ende verbessert. Dies hat allerdings weniger mit einer Öffnung ihrer Selbst zu tun, als vielmehr mit Figuren, die sich besser auf ihr Verhalten einzustellen vermögen. Die im Roman präsentierte Situation ist also keine radikale Änderung in Anne Lises Verhalten, sondern eine schrittweise Öffnung gegenüber einigen wenigen Mitmenschen. Diese werden zu keiner Zeit als besonders hilfreich oder empathisch dargestellt, sondern passen vielmehr individuell besser zur Protagonistin. Der Text endet schließlich mit einem sehr offenen Ausblick, der vielleicht auf ein Happy Ending hoffen lässt, es aber nicht als gesetzt präsentiert. Anne Lise kommentiert dies wie folgt: „Es wäre naiv zu glauben, der Lebensball hätte seine endgültige Richtung gefunden, nur weil er auf einmal ein bisschen anders rollt, als man dachte. Er hat nur die Richtung geändert. Das tun Lebensbälle unablässig. Er wird es wieder tun.“ (S. 223)

Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich ist vor allem ein gelungenes Figurenportrait. Mit vielen stilistischen Mitteln wird die Situation der Protagonistin auch auf der Ebene der Erzählweise wiedergeben. Übertreibungen und viele selbstironische Momente lockern das eigentlich sehr unangenehme Thema für die Lesenden dabei immer wieder auf. Der Roman liest sich so schnell und oft sehr unterhaltsam. Durch den Verzicht auf belehrende und moralisierende Elemente hat Liv Marit Weberg damit einen Text geschrieben, der auf sehr unaufdringliche Weise eine Auseinandersetzung mit dem Thema der sozialen Devianz fördert, ohne dessen Lesern dabei auch nur eine einzige Frage stellen zu müssen. Und dies kann Literatur in Zeiten von baukastenförmigen Bestseller-Problembüchern gar nicht hoch genug angerechnet werden.

Literatur

Weberg, Liv Marit: Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Frankfurt am Main: FISCHER Sauerländer 2015.

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